Der Schuss

Ein kleiner Junge erlebt den Einmarsch der Amerikaner in seinem Dorf.

Aus dem Nichts schossen die metallenen Bestien urplötzlich über dem nahen Horizont empor, um sich sogleich auf die beiden erspähten Opfer zu stürzen. Wie Hornissen rasten sie in geringer Höhe über die unbestellten, kahlen Felder. Das Kind stand gebannt von dem Schauspiel und starrte mit großen, staunenden Augen in das aufblitzende Mündungsfeuer der beiden fliegenden Maschinengewehre. Bauer war noch zu unerfahren, die tödliche Gefahr zu erkennen, er versuchte instinktiv den Lärm abzuwehren und hob die kleinen Hände an die Ohren. Doch seine Mutter hatte ihn bereits am Arm gepackt und zog ihn von der Stelle, an der er gerade noch wie angewurzelt gestanden hatte, fort. Bauer stolperte und fiel. Aber seine Mutter ließ nicht los, sie zwang ihn, zog ihn, schleifte ihn über die unwegsamen Schollen. Rennend, stolpernd, schreiend erreichten sie den rettenden Wald, bevor die beiden heulenden Tiefflieger zurückkehrten.

Nun erst wurde Bauer von panischer Angst ergriffen und begann zu weinen. Er misstraute dem Schutz des Waldes, denn durch die Baumkronen hindurch waren die lauernden Angreifer zu erkennen, die genau über ihnen kreisten. Erst als ihm seine Mutter die Schürze über den Kopf gestülpt hatte, beruhigte er sich. Nun konnten ihn die Flieger nicht mehr sehen.

Nach einer Weile schienen die Angreifer ihr Interesse an den zufälligen Zielen wieder verloren zu haben, die sie gewissermaßen en passant ausgemacht hatten, und verschwanden in die Unwirklichkeit, aus der sie gekommen waren. Aber erst, als kein Motorenlärm mehr zu hören war, wagten sich die beiden verängstigten Menschen aus ihrer Deckung.

Sie suchten einen Schuh, den Bauer während der chaotischen Flucht verloren hatte.

»Warum tun die das?«, wollte Bauer wissen. Die Mutter nahm ihn bei der Hand und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, weshalb sie das tun,« und nach einer Weile fügte sie hinzu, »ich glaube, sie hassen uns so sehr…«

»… was ist hassen?«

»Hassen ist das Gegenteil von Liebhaben, Kind.«

Bauer überlegte.

»Hassen sie uns so, wie der Bautze seine Pferde?«, fragte Bauer.

»Ich glaube, sie hassen uns noch mehr.«

Dann ist es schlimm, dachte Bauer, denn der Bautze prügelte seine Pferde. Er schrie sie an und prügelte sie mit einer Lederpeitsche, fast jeden Tag.

Sie suchten jede Furche des Ackers ab, aber der Schuh fand sich nicht. Schließlich machten sie sich auf den Heimweg. Bauer fand es komisch, mit einem Fuß im Schuh und mit dem anderen auf dem Strumpf zu laufen. Sie mussten beide lachen, obwohl Mutter sagte, dass sie nicht wisse, wie sie nun an neue Schuhe kommen solle. Sie wählten einen Weg, der Deckung bot, falls die Tiefflieger wieder zurückkämen.

»Und warum hassen sie uns?«, wollte Bauer noch wissen, aber seine Mutter wusste es nicht.

Einige Tage später, am 20. März 1945, herrschte in Bauers kleinem Heimatort unvermittelt Stille. Kein Fliegeralarm, keine Bomber, keine Tiefflieger. Gespenstische Stille lag über dem Dorf im Grenzland. Es war so, als ob eine Uhr, an deren regelmäßiges Ticken man sich gewöhnt hatte, plötzlich stehengeblieben wäre.

Die Waffen schwiegen.

Bauer war am 20. März 1945 fast Fünf.

»Die Amerikaner sind da«, sagte der alte Endrikat, »ich kann sie förmlich riechen.«

Aber die Amerikaner ließen sich Zeit.

»Ich habe heute noch keinen von den Unsrigen gesehen. Die möchten sich heute Nacht verdrückt haben. Die Amerikaner stehen keine fünf Kilometer von hier. Ich kann sie riechen.«

»Was sind Amerikaner?«, wollte Bauer wissen.

»Die Amerikaner möchten diesen Krieg jewinnen, Jungchen. Kann nicht mehr lange dauern, dann sind sie da.«

Endrikat war einer der vielen Flüchtlinge, die sie im Haus hatten. Eigentlich wohnten nur Bauer, seine Mutter und seine kleine Schwester hier. Großmutter war vor einigen Wochen gestorben. Und Vater. Wenn er aus dem Krieg nach Hause kam, würde er auch hier wohnen. Sein Motorrad stand im Schuppen. Endrikat war mit Tochter und zwei Enkeln vor den Russen geflüchtet. Der Schwiegersohn war an der Front. Wer die Russen waren, wusste Bauer schon. Der alte Endrikat hatte es ihm erklärt. Die Russen waren böse, böser als die Tiefflieger, viel böser als der Bautze und wahrscheinlich auch böser als die Amerikaner.

»Nuscht wie weg,« hatte der alte Endrikat gesagt, »so weit meine Pferdchen laufen! Bis ans andere Ende von Deutschland, weit weg von die Russen!« Endrikat setzte sich zu Bauers Mutter an den Tisch.

»Den Führer können Sie jetzt verbrennen, Frauchen. Die Vorsehung hat sich’s anders überlegt.«

Dann holte Endrikat seinen Kautabak hervor, nahm ein eigens für ihn reserviertes Brettchen und begann mit seinem Taschenmesser kleine Stückchen von dem gewundenen Strang abzuschneiden. Bauer beobachtete die Prozedur jeden Morgen. Endrikat legte jedes einzelne Tabakstückchen, bis auf eines, sorgfältig in eine Blechdose, die er verschloss und als Tagesration in seine Jackentasche steckte. Ein Priem blieb auf dem Brettchen liegen. Endrikat verstaute die Kautabakrolle, klappte das Messer zu und steckte es in die Tasche. Dann kam der Moment, auf den Bauer jeden morgen wartete. Endrikat führte den Priem zum Mund, warf Bauer einen kurzen, verschworenen Blick zu, konzentrierte sich aber dann wieder auf den Priem, hielt vor dem Mund kurz und genüsslich inne, bevor er den Tabak in den Mund steckte, als sei es ein Bonbon oder eine Lakritzstange. Endrikat verdrehte dabei vielsagend die Augen und begann andächtig zu kauen. Während dieser Prozedur, die von Tag zu Tag zur reiferen Zeremonie wurde, seit Endrikat Bauers Interesse bemerkt hatte, hielt Bauer den Mund halb geöffnet und vollzog die Mundbewegungen des alten Endrikat andächtig nach, so, als führe er ein Bonbon in den Mund. Schloss Endrikat zum Abschluss den Mund und begann zu kauen, tat es Bauer auch. Er schloss seinen kleinen, leeren Mund und vollführte einige synchrone Kaubewegungen zu denen des alten Endrikat. Bauer hätte zu gerne gewusst, wie das schmeckte, was Endrikat so genussvoll aß. Nein, er aß es gar nicht, er kaute es nur und nach einer Weile spuckte er es wieder aus. Dann war es eine unansehnliche braune Pampe.

Bauers Mutter nahm das Bild von der Wand, auf dem ein fremder Mann mit einem Schnauzbart zu sehen war, wie ihn Onkel Albert trug. Aber der Mann auf dem Bild sah strenger aus als Onkel Albert. Mutter legte das Bild wortlos vor Endrikat auf den Tisch, der wieder sein Taschenmesser hervorkramte und die Rückseite des Bilderrahmens öffnete. Dann nahm er das Foto aus dem Rahmen und gab es Bauers Mutter zurück. Diese hatte damit begonnen, ein Buch in Stücke zu reißen, dessen Seiten aneinander klebten und die Fetzen in den Herd zu stecken. Dann warf sie auch das Bild ins Feuer, beobachtete, wie die gierigen Flammen das Gesicht des schnauzbärtigen Mannes auffraßen und sah schweigend zu Endrikat hinüber. Der nickte kaum merklich. Dann begann Bauers Mutter in einer Schublade zu kramen. Endrikat erhob sich.

»Komm Jungchen, wir jehn mal nachsehen, wo die Amerikaner bleiben.«

Aber die Amerikaner ließen sich Zeit.

Die Mutter hatte Bauer dringend ans Herz gelegt, nicht wegzulaufen, sondern beim Haus zu bleiben. Heute wäre das ganz besonders wichtig. Bauer hatte es versprochen und ebenso schnell wieder vergessen. Als ihn andere Kinder aufforderten, zum Sportplatz zu kommen, zögerte er nicht. Auf dem Sportplatz war etwas los. Was, wusste niemand genau.

Bauer fand es schnell heraus. Auf dem Sportplatz lagen Dutzende von Gewehren und reichlich Munition. Ganze Patronenketten verschiedenster Kaliber lagen herum. Einige Kinder machten sich bereits an den Gewehren zu schaffen und versuchten damit zu schießen. Bauer war es streng verboten, ein Gewehr anzurühren. Das war klar, und einen Moment lang dachte er auch daran. Andererseits wusste er genau, wie man es machen musste, auch wie man ein Gewehr hielt, damit nichts passierte. Er hatte seinem Onkel, den sie wegen einer Silikose nicht bei den Soldaten gebrauchen konnten, mehrmals beim Spatzenschießen zugeschaut. Man musste das Schloss öffnen, eine Patrone hineinstecken, das Schloss schließen. Fertig.

Bauers Vater hatte auch immer ein Gewehr dabei, wenn er auf Fronturlaub kam. Allerdings hatte ihm Vater nie gezeigt, wie man schießt, sondern das Gewehr stets versteckt. Erst wenn er wieder in den Krieg zurückkehrte, holte er es hervor.

Es gab keinen Streit um die Waffen, jedes Kind hätte sich zwei nehmen können, so viele lagen auf dem Sportplatz herum. Allerdings waren die handlichen, kleineren Gewehre sofort vergriffen. So musste sich Bauer, obwohl er zu den Jüngsten zählte, mit einem schweren Karabiner begnügen, dessen Länge Bauers Körpergröße übertraf. Einigen Kindern war es bereits gelungen, die Waffen zu laden und in die Luft zu feuern, während Bauer noch nach passender Munition suchte. Die Patronen waren entweder zu dünn oder zu dick. Schließlich kam ihm ein älterer Junge zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie es, eine Patrone in den Lauf zu drücken, die eigentlich etwas zu dick war. Der größere Junge hebelte den Schlagbolzen einfach zwei oder dreimal kräftig hin und her. Dann war es geschafft. Bauer hob den mächtigen Karabiner, den er kaum zu halten vermochte, in die Höhe und legte fachmännisch an, wie er es bei den Soldaten gesehen hatte und bei seinem Onkel. Er hätte auch ohne Vorbilder gewusst, wie man ein Gewehr anlegt, obwohl es 1945 noch kein Fernsehen gab und Bauer noch kein einziges Mal im zehn Kilometer entfernten Kino gewesen war. Fünfjährige haben eine Affinität zu Waffen, wie Pubertierende zum anderen Geschlecht. Sie wissen, wie es geht, ohne jemals zugesehen zu haben. So stand der fünfjährige Bauer auf dem Sportplatz, ein Gewehr im Anschlag, das er kaum halten konnte und feuerte. Der Schuss zerfetzte die gespannte Stille zwischen den Fronten. Die Schallwellen dröhnten auf Bauers Trommelfelle und raubten ihm augenblicklich das Gehör. Für einen kurzen Augenblick verlor er Halt und Orientierung. Als Bauer begriff, was geschehen war, saß er auf dem Boden, der Karabiner war seinen Händen entglitten und lag ungefähr zwei Meter von ihm entfernt. Obwohl Bauers Gehör allmählich wiederkehrte, war kein zweiter Schuss möglich, denn die Patronenhülse, die sie zuvor gewaltsam in das Schloss gezwungen hatten, ließ sich nicht mehr entfernen.

Bauer betrachtete den Karabiner als Trophäe. Er bewunderte dieses Spielzeug aus Stahl und perfekter Technik, den glatten, polierten Holzschaft und den Geruch nach Öl und verbranntem Pulver. Alle Soldaten, die im Dorf waren, hatten Gewehre besessen, von denen eine geheimnisvolle Macht ausging. Bauer hatte diese Macht nicht an sich selbst wahrgenommen, aber er spürte, dass sich die Erwachsenen vor den Gewehren der Soldaten fürchteten. Bei seiner Mutter spürte er es am deutlichsten.

Mit einem Gewehr konnte man Menschen erschießen. Ein Mensch, der von einem Gewehrschuss getroffen wurde, fiel um und war tot, so tot wie Bauers Großmutter, die vor einigen Wochen gestorben war. Da hatte Bauer gesehen, wie es ist, wenn man tot ist. Sie hatten Großmutter in einem offenen Sarg aufgebahrt, im großen Zimmer, neben der Küche. Die tote Großmutter hielt Augen und Mund geschlossen und bewegte sich nicht mehr. Bauer hatte ihr Gesicht mit der Hand berührt, aber sie war regungslos geblieben, wie das Gesicht einer Puppe oder das aus Holz geschnitzte Gesicht seines Schaukelpferdes. Bauer hatte sich mehrmals alleine in das Zimmer gesetzt und Großmutter minutenlang ununterbrochen beobachtet. Er wollte sich davon überzeugen, dass sie sich wirklich nicht mehr bewegte. Die kurzen Blickunterbrechungen durch die Augenlider, die er nicht vermeiden konnte, behinderten und ärgerten ihn. Auch die Besucher, die in schwarzen Kleidern ins Haus kamen, um von Bauers Großmutter Abschied zu nehmen, störten ihn, denn sie blieben neben dem Sarg stehen und versperrten Bauers Blick auf Großmutters erstarrtes Gesicht.

Dann versuchte er seine Großmutter nachzuahmen und seinem eigenen Gesicht jene unveränderliche Starre zu verleihen. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte es nicht so lange ohne Atem aushalten wie Großmutter, und wenn er sich im Spiegel beobachten wollte, musste er die Augen öffnen. Dann versuchte er, die Augen bis auf einen schmalen, kaum noch wahrnehmbaren Spalt zu schließen, aber das hielt er nur sekundenlang aus. Tot sein war nicht so einfach.

Nach zwei Tagen wurde der Sarg verschlossen und mit einem schwarzen Pferdewagen zum Friedhof gebracht. Der Sarg wurde in eine Grube versenkt und mit Erde bedeckt. Sie versicherten ihm, dass Großmutter nicht ersticken könne, denn sie benötige nun niemals mehr Atem.

Mit dem Gewehr konnte man Menschen erschießen, die sich dann nicht mehr bewegten und keinen Atem mehr benötigten. Wurden Soldaten erschossen, nannte man sie »Gefallene«. Bauer hatte sich nämlich lange Zeit gefragt, was »gefallen« bedeutet und weshalb die Frauen wie an Großmutters Sarg weinten, wenn sie von »gefallenen« Soldaten sprachen. Bauer fiel häufig. Er hatte ständig Blessuren an beiden Knien. Aber er konnte problemlos wieder aufstehen und atmen. Bei Soldaten war das anders. Wenn sie fielen, waren sie tot und konnten nicht mehr atmen. Aber Soldaten fielen nur, wenn sie von einem Schuss getroffen wurden.

Im Dorf wurde viel von Gefallenen gesprochen. Es beschäftigte die Frauen ununterbrochen. Bauers Mutter weinte, wenn sie mit anderen Frauen sprach, die Briefe erhalten hatten. Denn in Briefen stand, dass jemand gefallen war. Und Bauer fragte sich, was geschähe, wenn seine Mutter einen Brief bekommen würde, in dem stand, dass Vater gefallen sei. Die Erwachsenen fürchteten den Tod. Und sie fürchteten die geheimnisvolle Macht von Gewehren.

Bauer beschloss den Karabiner mitzunehmen und ihn seiner Mutter zu zeigen. Er wählte den Weg durch die Wiesen, hinter den Häusern, am Bach entlang, um niemandem zu begegnen, der ihm seine Trophäe hätte streitig machen können. Er kannte den Weg genau, der sich neugierigen Blicken aus den Küchenfenstern entzog und brachte das Gewehr nach Hause.

Bauers Elternhaus war voller Flüchtlinge. Noch bevor er Mutters Küche erreichte, hatte ihm Endrikat den Karabiner weggenommen. Sofort herrschte im ganzen Haus Aufregung. Alle liefen zusammen, Bauers Mutter kam hinzu und wurde vor Schreck ganz weiß im Gesicht. Sie beratschlagten, was eilig zu tun sei. Die Amerikaner konnten jeden Moment kommen. Eine Waffe im Haus, das war ausgeschlossen. Das Gewehr musste weg. Niemand kümmerte sich um Bauer. Sie ließen ihn einfach stehen und liefen aufgeregt, wie gackernde Hühner mit Bauers Gewehr umher. Schließlich nahm der alte Endrikat die Sache in die Hand und versprach das Gewehr zu verstecken. Bauer musste währenddessen in Mutters Obhut bleiben, und als Endrikat zurückkam, verkündete er zufrieden, dass das Gewehr nun an einem sicheren Ort sei, an dem es weder die Amerikaner, noch Bauer jemals finden würden.

Die Amerikaner kamen am nächsten Morgen, noch bevor der alte Endrikat seinen Kautabak geschnitten hatte. Eine Vorhut mit mehreren Panzerspähwagen fuhr ganz langsam durch das Dorf und kehrte wieder um. Dann kamen die richtigen Panzer in einer endlosen Kolonne. Binnen kürzester Zeit war der Ort voller Soldaten, Panzer mit Kanonen, Lastwagen und Jeeps. Die Soldaten rochen nach Pulver, Öl, leeren Konservendosen und nach Schweiß. In Bauers Straße stellten sie eine endlose Batterie von Benzinkanistern auf, um sich rittlings darauf zu setzen und sich zu rasieren oder aus Konservendosen zu essen oder beides gleichzeitig.

Die amerikanischen Soldaten begannen, sich in Bauers Dorf einzurichten. Einige der Soldaten hatten schwarze Gesichter. Sie sahen aus, wie der Mohr in einem von Bauers Kinderbüchern. Sie boten Bauer und den anderen Kindern Schokolade an und lachten. Man musste sie nicht fürchten, obwohl sie auch Gewehre hatten. Der alte Endrikat sagte, das seien die gleichen Soldaten, die noch vor zwei Tagen mit Bombern über sie hinweggeflogen wären.

»Jungchen,« sagte er zu Bauer, »weißt du nicht mehr, auf dem Acker? Die hätten dich und deine Mutter aus dem Tiefflieger erschossen, wenn ihr nicht jelaufen wärt wie die Hasen, weswegen du einen deiner Schuhe verloren hast, der sich bis heute nicht wieder jefunden hat. Aber Bauer glaubte das nicht. Er glaubte nicht daran, dass in Fliegern überhaupt Menschen waren.

Die Soldaten sprachen eine merkwürdige Sprache, die Bauer nicht verstand. Einer von ihnen hieß Bill. Der schwarze Soldat hatte sich mit dem Finger auf die Brust gezeigt und lachend »Bill« gesagt. Das verstand Bauer und es genügte ihm auch.

Die Soldaten ihrerseits verstanden Bauer nicht, der ihnen alles erzählte, was in seinem Leben wichtig war. Aber die neuen Soldaten verstanden ihn nicht. Er sagte ihnen, dass sein Vater im Krieg sei, und dass er gerne Schokolade esse, und dass er auf dem Sportplatz mit einem richtigen Gewehr geschossen habe, und dass der alte Endrikat das Gewehr versteckt habe, und er fragte die neuen Soldaten, ob sie oben am Himmel im Flieger gewesen wären. Aber die neuen Soldaten lachten nur, denn sie verstanden Bauer nicht.

Bill hob Bauer hinauf auf den Panzerspähwagen und dann nahmen sie ihn mit auf ihrer Patrouille. Die Fahrt mit dem stählernen Ungetüm ließ Bauer alles vergessen, auch das Gewehr, und auch dass er damit geschossen hatte. Das Fahrzeug hatte vorne normale Räder, wie sie Autos auch hatten, aber hinten waren mächtige Panzerketten. Oben war das Fahrzeug bis auf zwei Luken, vollständig verkleidet. Vorne war eine Luke für den Fahrer, aus dem dieser gerade seinen Kopf heraus strecken konnte, um zu sehen, wohin er fuhr, und oben war eine Luke für ihn und Bill. Sie saßen nebeneinander auf dem Rand der Luke und ließen die Beine in das Innere des Fahrzeuges hinabbaumeln. So fuhren sie die Dorfstraße hinunter. Vor dem Dorfgasthaus standen einige amerikanische Soldaten, die Bauer zuwinkten. Bauer winkte zurück. Dann kamen sie mit lautem Rattern an der Schule vorbei, in die er gehen würde, wenn er Sechs war. Jetzt war Bauer fast Fünf. Er zeigte Bill mit den Fingern eine Fünf und deutete sich mit einem Finger der anderen Hand auf die Brust. Bill verstand. Jedenfalls nickte er lachend. In wenigen Tagen hatte Bauer Geburtstag. Dann wurde er erst richtig Fünf. Er beschloss Bill zur Geburtstagsfeier einzuladen. Die Straße stieg wieder leicht an, dann ging es wieder bergab dem Dorfende entgegen am Haus vom Hipser vorbei, der ohne Beine aus dem Krieg zurückgekehrt war. An der Kirche, die weit außerhalb des Ortes stand, kehrten sie wieder um. Bauer erkannte Freunde, die am Straßenrand standen und dem stählernen, ratternden Ungetüm staunend entgegensahen. Er winkte ihnen zu, von ganz oben. In den Gesichtern sah er ihr ungläubiges Staunen. Frauen, die an die Fenster gekommen waren, auch sie winkten Bauer zu, denn sie kannten ihn. Alle kannten sich in dem kleinen Ort. Aber er, Bauer, kannte nun auch noch Bill, der ihn zu dieser abenteuerlichen Fahrt mit dem Panzerspähwagen mitgenommen hatte. Als sie wieder zum Spritzenhaus zurückgekehrt waren, war die Fahrt zu Ende. Bauer musste oben sitzen bleiben, bis der Fahrer den röhrenden Motor abgestellt hatte. Dann durfte er alleine über die Panzerketten heruntersteigen.

Bauer eilte nach Hause, um von seinem Abenteuer zu berichten. In der Küche sprach Mutter gerade mit zwei Soldaten. Während der alte Endrikat schweigend am Tisch saß, stand Mutter den beiden Soldaten mit rotem Kopf gegenüber. Den roten Kopf hatte sie immer, wenn sie aufgeregt war. Von den Soldaten, die beide Gewehre und Pistolen hatten, sprach nur der jüngere. Wieviele Leute im Haus lebten, wollte er wissen. Mutter antwortete sehr ausführlich und zählte alle, auch die Flüchtlinge mit Namen auf. Dann wollte der jüngere Soldat wissen, ob sie eine Hakenkreuzfahne besäße. Mutter holte die Fahne und legte sie zusammengefaltet auf den Tisch. Als der Soldat danach griff, hielt Bauers Mutter die Fahne fest. Ob sie die Fahne zertrennen dürfe, fragte sie, es fehle an allem, den Stoff könne sie gut gebrauchen. Es sei guter Stoff. Die beiden Soldaten wechselten einige Worte in Bills Sprache, die Bauer nicht verstand. Dann sagte er, sie seien damit einverstanden, aber sie würden wiederkommen, um die zertrennte Fahne zu kontrollieren.

Während der jüngere der beiden Soldaten Anstalten machte, die Wohnung zu verlassen, hielt ihn der ältere zurück, und während er Endrikat ansah, sagte er etwas, das Bauer nicht verstand. Endrikat sah fragend zu dem jüngeren Soldaten hinüber, der übersetzte:

»Haben Sie Waffen im Haus?« Noch bevor Endrikat etwas erwidern konnte, antwortete Bauers Mutter hastig: »Nein!«

Sie hatte unmittelbar und spontan geantwortet. Die Frage des Soldaten war noch nicht beendet, da kam bereits die kurze, entschiedene Antwort. Sie hatte das »Nein« nicht so gesagt, wie sie es sonst sagte. Es war kürzer und die Stimme war höher. Bauer spürte die Angst seiner Mutter. Unwillkürlich hatte sie nach ihm gegriffen und seinen Kopf an ihre Kittelschürze gedrückt, als sie es wiederholte:

»Nein, keine Waffen!«

Die beiden Soldaten gingen und von dem Gewehr, mit dem Bauer geschossen und das der alte Endrikat versteckt hatte, wurde nie mehr gesprochen. Bauer wusste nicht warum das so war, aber er hielt sich an die stillschweigende Vereinbarung, die er nicht verstand. Er wollte seine Mutter nicht ängstigen.

Als die Männer weg waren, erzählte Bauer von der Fahrt mit dem Panzerspähwagen, dass er ganz oben bei Bill gesessen und allen Leuten zugewinkt habe. Bis an die Kirche seien sie gefahren, fast bis zum Nachbarort. Und alle Leute hätten gestaunt, als sie ihn, Bauer, ganz oben, auf dem Panzerauto gesehen hätten. Aber Bauers Mutter konnte sich nicht mit ihm freuen. Sie hatte eine Schere genommen und damit begonnen, die schwarzen Balken des Hakenkreuzes aus dem weißen und roten Stoff zu trennen. Sie musste ganz vorsichtig, Stich für Stich die dünnen Fäden zertrennen und darauf achten, dass der Stoff nicht beschädigt wurde. Bauer sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.

»Weinst Du, Mutter?«, fragte Bauer.

»Nein, ich glaube nicht, Kind.«

»Weinst Du, weil Du die Fahne kaputtmachen musst?«, fragte Bauer.

»Nein, Kind, die Fahne ist ganz unwichtig. Die brauchen wir jetzt nicht mehr.«

»Wird Vater schimpfen, wenn er nach Hause kommt und Du die Fahne kaputtgemacht hast?«, fragte Bauer.

»Nein, er wird sagen, wir hätten es richtig gemacht, Du und ich. Er will nur wissen, ob wir beide gesund sind, wenn er nach Hause kommt. Das ist alles, was er wissen will.«

»Wo ist Vater jetzt?«, fragte Bauer.

»Ich weiß es nicht, Kind. Ich weiß es nicht. Er ist im Krieg.«

Dann weinte Bauers Mutter und Bauer wusste, dass er nichts mehr fragen konnte. Er würde ihr ein anderes Mal sagen müssen, dass er Bill zum Geburtstag einladen wolle.

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