Die Geschäftsreise

Die Tochter eines Unternehmers geht im Sommer 1968 mit auf Geschäftsreise

Der Sommer, in dem alles möglich war.

Wissenschafter der unterschiedlichsten Richtungen versuchen seit einigen Jahren, jenen heißen Sommer mit dem Beginn der Informationsflut und der damit verbundenen sexuellen Aufklärung, die damals ihren Anfang nahm, zu erklären. Doch wer jenen Sommer bewußt erlebt hat, weiß, daß an dieser Erklärung mehr als nur etwas faul, und daß dies Gelaber einfach nicht wahr ist.

Es war, als täte sich etwas Unerklärliches im Innern der Erde und oben, in den Lüften. Es kam von oben und unten, umwehte uns sanft, wurde stärker und riß uns mit sich. Es kann nicht nur an der Trockenheit, der Dürre und Hitze jenes Sommers gelegen haben. Es lag in der Luft, war überall, wo ich gerade war, gerade ankam: Zürich, Paris, Berlin, New York, Los Angeles, London - Aufbruch- und Abstreifstimmung, die Pilzköpfe, Jazz, Samba, der Tanz der Straßen endlich auf den Straßen, aufgeregte Politiker und aufmüpfige Professoren im gleichen Boot, am Ufer die geschockten Lehrer und die Erwachsenen mit ihren verständnislosen Blicken, und überall: schier unerschöpfliche Energien.

Wir, die damaligen Studenten, wollten die Welt verändern, den Krieg abschaffen, die Rechthabereien, den Filz der politischen Parteien, die Armee, den Staatsapparat, das bestehende System, all das, was wir Establishment nannten. Wir hatten die Nase voll von den ewigen Befehlen, die wir nicht hinterfragen durften, aber willig ausführen mußten. Make love not war. Keiner von uns hatte die Absicht, sich mit jemandem zu prügeln; keiner wollte mit den Fäusten kämpfen oder mit Steinen werfen. Mit friedlichen Mitteln wollten wir dem Establishment zu Leibe rücken. Einige Tage lang ging das gut; wir hielten uns in der Uni auf oder auf den Treppen davor. Die Ordnungshüter lächelten nachsichtig; die Politiker wandten sich angewidert ab; Väter und Mütter betrachteten uns, als wären wir dem Zoo entsprungene junge Affen, und lachende Kinder zeigten mit den Fingern auf uns.

Mein Vater bereitete gerade eine längere Geschäftsreise vor; sie sollte um die halbe Welt führen. Er verfügte über mich, wie andere über einen unentbehrlichen Gegenstand verfügen, und teilte mir mit, ich hätte ihn, da die Vorlesungen ohnehin nicht abgehalten werden könnten, zu begleiten. Reisepapiere waren zu besorgen und Empfehlungsschreiben einzuholen, Botschafter und Handelsattachés aufzusuchen.

Anfangs war ich überhaupt nicht begeistert von der Idee, die Stadt verlassen zu müssen. Die Tage waren heiß und die Nächte auch; die Stadtväter hatten gerade beschlossen, die Feuerwehren aufzubieten und mit kaltem Wasser gegen die Demonstranten vorzugehen. Keiner schenkte der Absicht Glauben, auch ich nicht. Eine Kreuzung wurde von unzähligen Menschen blockiert, ein paar Straßenbahnen und damit der Stadtverkehr lahmgelegt. Von der Handelskammer Deutschland-Schweiz in Zürich herkommend lief ich gut gelaunt und voller Energie den von Polizei und Feuerwehr verfolgten Demonstranten entgegen, wurde von beiden Parteien überrollt, bekam ein paar Schläge und einen kühlenden Wasserstrahl ab. Ich war erschrocken, fürchtete mich vor der schreienden Masse, der gnadenlosen Jagd der Obrigkeit auf die Demonstranten und am Abend, als die Bilder über’s Fernsehen ausgestrahlt wurden, wurde mir klar, daß dem gewaltfreien Einstehen für ein Verändern der Welt ein Ende bereitet worden war.

Ein paar Tage später, in Paris, verbotenerweise im Quartier Latin, die Menschen von den tätlichen Übergriffen des Vortages noch geschockt, wurden gegen abend neue Barrikaden gebaut, Türen aus den Angeln gehoben, Autos gekippt, alles, was ein Haus herzugeben hatte, auf die Straße geschleppt. Am Abend fingen die Schlachten zu toben an, Flammen loderten auf. - Ein unbeschreiblicher Gestank lag über dem Quartier; auch in den späten Morgenstunden stieg noch Rauch aus den Wracks, Barrikaden wurden wieder aufgebaut und ein paar Straßen weiter Reden geschwungen. Sartre - ich mochte ihn nicht - war da und peitschte die Menge auf. Wir reisten noch am selben Tage ab.

In den USA war die Unruhe größer, massiver, mächtiger. Der Zorn der Studenten und Professoren richtete sich gegen den Krieg, das völlig unnötige Sterben der amerikanischen Soldaten, das absurde Treiben der Generäle in Vietnam und die Verlogenheit der Regierung. Wie gern hätte ich da mitgemacht, aber eine Ausweisung wollte ich nicht riskieren.

Natürlich hörte ich von dem, was sich in den europäischen Hauptstädten abspielte. Ich selbst vermochte nicht viel anzufangen mit den Philosophien der in Europa vorpreschenden Linken; es schien mir, als versuchten verlogene Versprechungen ein verlogenes System abzulösen. Auch vermischten sich die Interessen; keiner schien mehr so genau zu wissen, weshalb er auf die Straße ging - er ging einfach. Demonstrieren fing an, zum guten Ton zu gehören. Jeder ging hin. Es war “in”.

Doch die Luft war noch immer voller Energie; ich fühlte mich stark und unanfechtbar. Da ich sozusagen geschäftlich unterwegs war, fing ich an, mich in die Geschäftspolitik einzumischen; ich kann nicht genau sagen, wie es kam, aber ich schob alle beiseite und fing zu verhandeln an. Väterchen knirschte mit den Zähnen; auf seiner Stirn bildete sich die altbekannte Zornesfalte - wütend verließ er den Verhandlungsraum im “Ritz”. Ich zuckte die Achseln und fing mit den mit allen Wassern gewaschenen Verhandlungspartnern um Lizenzen und Patentverkauf zu pokern an. Als Väterchen zurückkehrte, waren die Geschäfte unter Dach und Fach; er mußte nur noch die Vorverträge unterschreiben. Er wußte so genau wie ich, daß die Geschäfte platzen würden, wenn er sich auch nur anmerken ließe, daß ich nicht mal die Vollmacht besaß, den Mund aufzumachen. Er riß sich zusammen, las die Vorverträge durch und unterzeichnete sie.

Ein paar Stunden später rannten wir barfuß durch einen riesigen Park, hockten uns zu den Hippies, lachten, rauchten süßliches Zeug und sangen. Ich, weil ich meinte, gewonnen zu haben; er, weil er wußte, daß ich sehr gute Vertragsbedingungen ausgehandelt hatte. Daß ich ihm an jenem Tag ein Vermögen eingebracht hatte, erfuhr ich erst zwanzig Jahre später. Alles, was ich in jenem Sommer anpackte, gelang; ich brachte Väterchen sogar dazu, bessere Arbeitsbedingungen für seine Leute zu schaffen. Aber dann kam der Herbst und mit ihm zog Ernüchterung ein. Ein Teil der Arbeitsplätze wurde nach Taiwan verlegt; die eigenen Leute entlassen. Das war damals kein Unding: Arbeitskräfte waren Mangelware. Konnte man keine importieren, exportierte man eben Arbeitsplätze.

Und trotzdem, wenn ich einen unerfüllbaren Wunsch frei hätte, wünschte ich mir noch einmal einen solchen Sommer, denn über dem Rauschen vernehme ich das Signal: weg mit den Zwängen, fort mit den unsichtbaren Gitterstäben. Einen ganzen, langen, heißen Sommer lang schien es, als hätte die Herrschaft die Macht abgestreift und die Macht den Besitzer gewechselt. Auf allen Ebenen. Einen Sommer lang hielt er an, der Traum von der Freiheit, der Gerechtigkeit. Einen Sommer lang.

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