Der Kniefall

…der Vater sagt etwas wie: "Endlich!" Erleichterung macht sich bemerkbar: "Hast du das gesehen? Endlich! Endlich einer, der sich bei den Polen entschuldigt!"

Erinnerungs-Reise in drei Bildern

Erstes Bild:

Ein Fernsehbild, schwarz-weiß noch in jenen Tagen - und natürlich auch an jenem Wintertag des Jahres 1970, als er sich ereignete: der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos. Er ereignete sich im Fernsehen. Heute würde man sagen: er ereignete sich für das Fernsehen, wie überhaupt nahezu alles von einiger Bedeutung sich ereignet, um gesendet zu werden.

Damals aber, dachte ich nicht daran, dachten wir alle nicht daran, daß es das Fernsehen war, das uns den Kniefall zeigte. Er geschah - wenn auch in der Tagesschau des ersten Programms. Aber das war nicht wichtig. Er geschah, wie es uns damals schien, für uns, was damals hieß: für uns fernsehende Familienmitglieder, die der Dramaturgie des Ablaufes auf dem Bildschirm mit gespannter Aufmerksamkeit folgten.

Ich kann mich schon deshalb noch an die Szene erinnern, weil wir sie später einander so oft wiedererzählten, als ob wir unseren Fernsehaugen doch nicht trauten, als ob wir uns vergewissern wollten, daß wir auch wirklich das gesehen haben, was wir sahen - kurz: ich erinnere die entscheidende Staatsbesuchszene ungefähr so:

Willy Brandt nähert sich mit langsam, zeremoniös abgemessenen Staatsbesuchs-Schritten der bewußten Stelle. Der obligate Staatsbesuchs-Gedenkkranz, eines jener monströsen Gebilde, das einst der große Dirigent Arturo Toscanini (der auf der Mono-Langspielplatte meiner Eltern die Erste von Brahms dirigierte) mit den Worten abgewiesen haben soll, sie eigneten sich allenfalls für eine Diva oder für einen Toten, kommt ins zeremoniöse Spiel, wird von uniformierten Ritualteilnehmern - ich weiß nicht mehr wie - an die dafür vorgesehene Stelle drapiert. Willy Brandt verharrt eine Weile staatsmännisch. Da - plötzlich, unerwartet, schockartig - läßt er sich fallen, kniet unversehens auf dem regennassen Asphalt, den unbedeckten Kopf gesenkt - ein Fotoreporter in einem jener kurzen Wettermäntel, die in den Filmen der sechziger Jahre der melancholische Lino Ventura zu tragen pflegte - springt behende an die Seite des Kanzlers, schießt sein Foto, andere folgen ….wir eilen ebenfalls an die Seite des Kanzlers, die Eltern erheben sich wie elektrisiert, der Vater sagt etwas wie: “Endlich!” Erleichterung macht sich bemerkbar: “hast du das gesehen? Endlich! Endlich einer, der sich bei den Polen entschuldigt!” Die Erleichterung ist der Schock der Erlösung: vom Krieg, von der Nachkriegszeit, von jenem dunklen Grauen, das irgendwann einmal vor meiner Geburt stattfand. Die Erleichterung ist Entspannung und Entspannungspolitik.

Und Willy Brandt, diese ethische Inkarnation des anständigen Deutschen unter all den kalten Kriegern und Ex-Kanzler-Ehrhardt-Deutschen, so scheint es uns, hat es endlich gewagt: ein archetypischer Büßer, der, selbst ohne Schuld, die Schuld aller auf sich nimmt - “nun muß sich alles, alles wenden”, heißt es im Frühlings-Gedicht eines deutschen Spätromantikers.

Zweites Bild:

Das Titelbild einer Zeitschrift: Willy Brandt kniet auf regennassem Asphalt mit gesenktem Kopf vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes.

Es ist eine dänische Zeitschrift, die unser Gastgeber hervorkramt. Es ist inzwischen Sommer geworden und Sommerurlaub. Wir sitzen im Wohnzimmer eines dänischen Ehepaares, die während der großen Ferien die Zimmer ihrer beiden Kinder an Touristen vermieten - Familienanschluß inklusive. Und so diskutieren wir also an diesem Abend mit der dänischen Familie Politisches in holprigem Englisch. (Man sprach in jenen post-68iger Jahren immer zuerst über Politisches - der Smalltalk folgte

  • wenn überhaupt - allenfalls erst zum Abschied).

Wir alle haben uns vor wenigen Stunden kennengelernt: da meine Eltern unsere Familienurlaube nur ungern im voraus planten, sind wir auch dieses Mal mit dem Familien-Ford losgefahren und per Zufall auf das Nachtquartier der dänischen Familie gestoßen). Da sitzen wir also im dänischen Wohnzimmer und reden: die Rede der Erwachsenen berührt - wie so oft während unseres Dänemark-Urlaubs - die deutsche Besetzung Dänemarks im Zweiten Weltkrieg, die dänische Widerstandsbewegung - und dann holt der dänische Familienvater die Zeitschrift hervor und zeigt meinen Eltern das Titelbild mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau.

In diesem Augenblick löst sich meine Beschämung darüber, diesem verfluchten Volk der Deutschen angehören zu müssen (“benehmt euch”, mahnen die Eltern, “gerade im Ausland müssen “wir” ganz besonders höflich sein…”) - und ich verspüre jenes Gefühl, das einen Strafgefangenen befallen mag, wenn er wegen guter Führung noch eine letzte Chance auf ein ehrliches Leben erhält: “bald sind wir Europäer”, denke ich.

Eine Frage habe er noch, wendet sich zu spätnächtlicher Stunde der dänische Familienvater an meinen Vater. Ob er glaube, daß die DDR und die Bundesrepublik denn jemals wieder vereint sein würden? Mein Vater schüttelt lächelnd den Kopf. “Aber nein,” sagt er. Daran glaube selbst in Westdeutschland kein Mensch mehr - am allerwenigsten jene Politiker, die in ihren Sonntagsreden über die deutsch-deutsche Teilung klagten.

Drittes Bild:

kein Bild - allenfalls das Schriftbild jenes Artikels, der um die Jahre 1990/91 in einer überregionalen Zeitung stand und mir ins Auge stach.

Von der Ostpolitik der siebziger Jahre war da die Rede - und der Artikelschreiber rechnete mit der Entspannungspolitik ab. Letztere, so sein Tenor, habe doch allenfalls zur Aufrechterhaltung der kommunistischen Regimes in Osteuropa gedient. Sämtliche der mühsam auf dem Vertragswege erzielten Reiseerleichterungen für die einfachen Bürger in Ost und West seien doch letztlich lächerliche Resultate gewesen. Im Lichte der deutschen Vereinigung betrachtet, hätte man damals besser daran getan, hart und kompromißlos auf dem Nato- und Weststandpunkt zu beharren - dann wären all diese Regimes sicherlich weitaus früher zusammengebrochen. Und auf gar keinen Fall hätte man Geld und Kredite an die polnischen Kommunisten geben sollen….

Ich weiß nicht mehr, ob ich das betreffende Zeitungsexemplar im Altpapiercontainer oder im Hausmüll entsorgt habe.

Ich kann mich nur noch erinnern, daß ich mich erinnerte: an den gesenkten Kopf Willy Brandts in Warschau - nein: - in unserem Wohnzimmer, vor genau 28 Jahren. Ich war damals 13.

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