Jetzt ist es nicht mehr so

Deutscher Oktober. Vom Verlust der Unschuld einer Jugend, die in Hysterie gebadet wurde.

Vom Einbruch des Schwachsinns in das tägliche Elend

Wann saßen wir zuletzt mit Tränen auf den Wangen vor dem Fernseher? Zwei Jahre zuvor. Biermann sang uns zu und durfte nie nie wieder nach Hause. Wir blieben die Nacht auf, im Wohnzimmer meiner Mutter, und diskutierten die Tränen weg. Aber nun? Nichts als Ratlosigkeit.

Guten Abend meine verehrten Damen und Herren. Die Nachrichten. Weltuntergang. Nach Informationen des Apocalypse Research Institute trat der Weltuntergang heute Nachmittag gegen 17.30 ein. Sport. Die internationalen Leichtathletikmeisterschaften in Athen brachten heute drei Gold- und eine Silbermedaille für das deutsche Team. Pakistan. Die Verhandlungen über den Atomwaffensperrvertrag wurden bis zum Abschluß der laufenden Testserie ausgesetzt. Das Wetter. Für Morgen wird kein Wetter vorhergesagt. Die Meldungen im einzelnen.

Fünf Meter Blumendraht in der Sohle der Cowboystiefel, eine Mofabatterie, 500g Plastiksprengstoff, eine Stahlsäge. Der kleine Teufel wußte sich betont unauffällig zu benehmen. Der Bus verließ allmählich das bewohnte Gebiet. Vorstadthäuschen, Gemüsegärten mit Gewächshäusern und Tankstellen machten sich breit. Dann ein Wäldchen. Im nächsten Kaff wird er aussteigen.

Ich war damals ein Opfer der deutschen Wohlfahrtsindustrie, Pflegehelfer im ›freiwilligen sozialen Jahr‹, gewohnt, Verbände zu wechseln, Blut aufzuwischen und Hinterbliebene zu trösten. Ich pflegte ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen und Amseln und Fichten zu bedichten, obwohl auch in meine Gedichte längst schon das kalte Pathos des Politischen gekrochen, war: die späten Siebziger eben.

Als man das Gute tat. Eben lernten wir es. Etwa 30 Helferinnen und Helfer, eingepfercht in Dachkammern eines Münchner Bürohauses, Lehrgangsteilnehmer, die dort auch wohnten. überwiegend waren wir weiblich, Abiturientin und durch nichts zu erschüttern, das die Medien zauberten. Bis zu diesen Tagen. Mit dem Kofferraumdeckel eines schäbigen Automobils öffneten sich die Tränenschleusen. Heraus kam ein toter Arbeitgeberpräsident, den nie jemand wirklich gemocht hatte, heraus kam eine Anteilnahme am Entfernten, Unwirklichen, die mich, männlich und verträumt, herausschleuderte aus der Bande der Naiven, so dass ich, wie zuvor Biermann, nimmer mehr heim finden konnte.

Die Geiseln von Mogadischu, der kleine Teufel grinste, nein das war nichts für ihn. Es geht nicht mehr um Personen. Hitler, ja das wäre was gewesen. Aber heute? Die obrigkeitliche Gewalt ist allgegenwärtig. Und doch kaum spürbar. Wir unterdrücken uns selbst. Kein SA-Mann steht an der Haustür Wache, aber ein Telefon im Schlafzimmer. Ist es nicht schrecklich? Ja ja, schrecklich. Der kleine Teufel steigt aus. “… die Kaviarfresserei satt.”

Die Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches hatte sich nicht erpressen lassen - na, wie auch - aber ich bin hinausgepresst worden aus der übereinstimmung der Guten, der Wohlanständigen und der Engagierten. Herr Schleyer ist mir eigentlich egal gewesen. Das eben war es, das trennte. Heute, da nur wenige sich Kommentare zum Tod der Prinzessin Diana verkneifen können, die mir ebenfalls nichts bedeutet, verstehe ich die künstlichen Welten und ihre Anhänger schon längst nicht mehr, halte ich selbst eine Mailingliste für “Real Life”, damals aber, vor zwanzig Jahren, glaubte ich noch: an die Gegenwart eines “Anderen”, das ich nicht berühren konnte.

Von hier sind es noch fast dreißig Minuten zu Fuß. Am Bahngleis entlang, dann über den Hügel - die Tannenstube hat heute Ruhetag - bald zehn Minuten auf der Schotterstraße, schließlich nach rechts in das Lichbachtal. Wie lange muss man sägen? Zwei Stunden? Fünf? Noch einmal der Griff nach den Handschuhen: nur keine Spuren hinterlassen.

Der Reihe nach: Fieber messen, Puls zählen, Spritzen setzen, ein schriftlicher Test, Gefahren langer Liegedauer. Dann war es um die 16 Uhr. Wir saßen auf der Dachterrasse. (Gab es eine Dachterrasse? War es nicht doch ein Balkon? Nein, da war kein Balkon.) Die Raucher. Wir rauchten. Zigaretten und eine Mitschülerin rauchte Pfeife; das machte sie älter, lasziver und umgab sie mit so einen künstlerischen Hauch, wie ich ihn vom Elternhause her nicht mochte. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Wir rauchten. Einer anderen, einer Nichtraucherin, fehlten fünfzig Mark. Das war eine Menge Geld, ein kleiner Schatz für junge Leute, die mit hundertfünfzig Mark im Monat auskommen mussten. Ein Dieb, eine Diebin war unter uns. Es ging hoch her. Jedenfalls glaube ich, dass es hoch her gegangen ist. Manche gingen dann einkaufen. Ein trüber Tag.

Geht es Ihnen nicht gut? Die Verkäuferin hatte ihn sehr kritisch beäugt. Der kleine Teufel fühlte sich gut, o doch. Sie wissen nicht, wer ich bin. Arbeiter, Angestellte, Beamte: alles Sklaven. Gefangen in elektrischen Drähten. Wer sich daneben benimmt, kommt ins Fernsehen. Danke für meine Arbeitsstelle, danke, dass ich Danken darf. Danke fürs Gespräch.

Ich hatte mich damals gerade verliebt und spazierte mit meiner Angebeteten zum Olympiapark - ganz in der Nähe. Dort roch es noch geradezu nach Terroristen und ich erinnere mich, dass wir von den deutschen Sympathien für die Palästinenser sprachen und von der Unmöglichkeit, Israelitisches unanstößig zu äußern. Aber dann kamen wir auf den Diebstahlsverdacht zurück. Wir gingen schwimmen. Es blieb trübe.

Eva, so hieß sie, lang und dünn und höhnisch (ich hatte mich nicht getraut, vom Fünfmeterbrett zu springen), gewann aber doch an Fröhlichkeit. Zum Abendessen waren wir zurück. Tischgespräche.

Der kleine Teufel “sichert” vorsichtig das Gelände. Kein Schwein zu sehn. Dreißig, vierzig Minuten sägen. Umsonst. Der Schweiß rinnt ihm über das Gesicht. Nicht einmal eine richtige Kerbe ist zu sehen. Der kleine Teufel legt das Werkzeug weg und baut seinen Sprengsatz zusammen, es wird klappen. Ohne zögern klettert er nach oben. Tod durch Stromschlag? So stirbt man heute.

Wir waren ja alle so politisch. Politisch - das hieß, Zeitung zu lesen, vor allem den Wirtschaftsteil der FAZ, und erhitzte Reden zu schwingen über Dinge, die wir kaum begreifen konnten. Nun waren es eher Themen der Unterhaltung: Arbeitgeberpräsidentenentführung, Flugzeugentführung, Kaufhausbrandstifterraushole. Aber der Diebstahl. Schweigen breitete sich aus, zog sich hin, in die nachfolgende Raucherrunde hinein. Hat es geregnet? Ich glaube nicht. Der Diebstahl. “Wir müssen uns aussprechen.” Ein Labertermin. “Das bringt nichts.” “Doch doch, ich führe Protokoll, strukturiere das Ganze - wir werden eine Lösung finden…” so unser Jungpsychologe. Nichts geschah. Nie wieder ist diese Angelegenheit zwischen uns erwähnt worden. Punkt zwanzig Uhr brach das Fernsehn in unsere kleine Welt ein mit der großen Nachricht vom aufklappenden Kofferraumdeckel.

1.57 Uhr. Ein scharfer Knall zerreißt die Stille im Tal. Hunderte erschreckter Vögel flattern auf. Dann erst, als wären Minuten vergangen, ein Donnergrollen von allen Seiten anschwellend. Zwei dicke Stahlseile fallen schwungvoll ins Gras, Funken sprühen. Es knistert und zischt. Einer der Drähte windet sich hin und her, peitscht den Boden, hüpft auf und ab und fällt dann wie eine müde Kobra nach einer Zirkusvorstellung in sich zusammen. Keine Spuren? Ach was - der kleine Teufel rennt was die Beine hergeben, den Hügel hinauf in den Wald. Er wird den ganzen Weg zurück zu Fuß gehen. Nach Hause. 30 Sekunden später hat der Strom eine andere Leitung gefunden und saust, als sei nichts geschehen, den Haushalten entgegen.

Das Fernsehgerät stand in der Schmusekammer. Rauchverbot aber gemütlich. Spät abends kuschelten Pärchen auf dem weichen Teppichboden. Acht Uhr Tagesschau, beinahe wäre nichts passiert, Stromausfall, dann ist er wieder da: Schleyer gefunden. Die Tränen. Als wäre eine von uns gestorben, als wäre die Welt, die wir eben erst zu lieben lernten, nun plötzlich zuende. Tröstende Umarmungen. Schluchzende Gesichter an schluchzenden Gesichtern. Eva war verschwunden und ich hatte ein anderes Mädchen im Arm, das am ganzen Körper zitterte, Rotz und Wasser heulte und immer wieder vergeblich versuchte, einen ganzen Satz herauszubringen. Die Nilpferde schossen mir ins Gehirn - war ich allein? Ganz allein in einer Welt der Verrückten? Konnte ich nichts mehr empfinden? Hätte ich ergriffen sein müssen? Warum?

Ich galt als liebenswerter Teddybär-Typ. Seit diesem Tag nannten sie mich “kalter Fisch.” Ich hatte keine Tränen. Nicht für Herrn Schleyer nicht, sondern nicht für ein Medienereignis. Es berührte mich nicht. Leben wir überhaupt wirklich? Waren sie nicht alle bloß im Fernsehn? War ich nicht wirklich allein?

Ich schreibe gerade an einem kleinen Aufsatz über den Verlust meines Glaubens an die Realität der Medienwelt. Wann denn? Anlässlich der Stimmungsausbrüche nach der Ermordung Schleyers. 1997? Ja, ich auch. Na also.

… Strahlt das ZDF die Dokumentation über den Tod von Alexandra nun in voller Länge aus. Der Bericht des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL wird jedoch von der Anstaltsleitung nach wie vor dementiert. 1927.

Sie weinten.

Summary

Ladies and gentlemen, good evening. Sports. Pakistan. The weather. We were all so political, yeah. We smoked. Thanx for my job, thanx for conversation.

The little devil “secures” the terrain carefully. The robbery. TV broke point twenty into our small world with the large news. 19.57. Home again. The tears. Sobbing faces at sobbing faces.

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