Tschernobyl, der Umbruch

Ein physikbegeisterter Gymnasiast erlebt Tschernobyl

Ehemals war ich ein kleiner Schuljunge ohne Wissen und vor allem ohne Ahnung darüber, wie die Welt ihren Tanz auf’s Parkett bringt. Heute habe ich verstanden: was die Welt ausmacht, sind die Menschen in ihr und ihre Gedanken - sie sind es, die entscheiden, ob es ein langsamer Walzer oder ein Tango sein wird. Sie sind es, die entscheiden, wie schnell sie außer Atem kommt unsere Welt. Freilich, wenn die Musik schneller und schneller wird, kann sie irgendwann einmal nicht mehr mithalten und lässt uns entkräftet fallen.

1986 war das Jahr meines Umbruches. Ich ging in die 10. Klasse des Gymnasiums in Bernkastel-Kues, und es traf sich, daß wir gerade als das Unglück passierte die Technik der Kernkraftwerke in Physik durchnahmen. Es wurden ganz spezielle Physikstunden - was war passiert in diesem Reaktor, der uns so fern schien, so fern, daß wir dachten, eigentlich kann uns der Störfall nicht betreffen, das muß alles abgeregnet sein, die Luft gereinigt, wenn sie bei uns ankommt: es sind schließlich Tausende von Kilometern. Auf die technischen Gegebenheiten legte ich viel Wert:

Wie wurde das Unglück prinzipiell ausgelöst?

Welche physikalischen Prozesse spielten eine Rolle?

Welche technischen Geräte oder Vorkehrungen hätten das Unglück verhindern können?

Wie räumt man den vorhandenen Müll weg und wohin damit?

Als einige Zeit nach dem Unglück Meldungen durch die Medien gingen, die von strahlendem Ackerland und verseuchtem Salat erzählten, begann ich mir Gedanken über das Umfeld zu machen. Ich ertappte mich! Ich hatte nie, in keiner meiner Betrachtungen des Unglücks an die Menschen gedacht, an ihr Schicksal, an das Leid, das sie ertragen mussten. Die Fehler hatte ich gesehen, die Auswirkungen verdrängt. Ein kleiner, aber wesentlicher Schalter in mir hat sich betätigt. Ich wurde nie zum Atomkraftgegner - dazu kannte und kenne ich die technischen Gegebenheiten zu gut, aber ich habe mir die Wichtigkeit der allseitigen Betrachtung erschlossen, die einer subjektiven Meinungsbildung vorausgehen muß, und ich habe gelernt, daß es nichts Wichtigeres geben kann als das Leben.

Dieser Bruch mit mir selbst hat, glaube ich, einen positiven Schatten geworfen auf mein Leben. Vielleicht wäre ich ein besserer Physiker geworden, wenn ich die Ethik nicht für mich entdeckt hätte. Auf alle Fälle wäre ich ein unmenschlicherer Mensch geworden.

18.01.1999

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