Geh doch nach Drüben!

Diesen Satz vermisse ich

Eine Polemik

Wie vermisse ich diesen Satz, vermisse dieses Signal des Stammtisches, der großformatigen Zeitung, diese weiße Fahne der Dummheit, die immer dann aufgezogen wurde, wenn die Argumente nicht mehr ausreichten.

Nicht, daß ich diesem Rat gefolgt wäre. Der Unterschied zwischen “Real existierendem Sozialismus” und “Kapitalismus mit menschlichem Antlitz” war mir sehr wohl bekannt. “Im Kapitalismus beutet der Einzelne die Massen aus. Im Sozialismus ist es genau umgekehrt.” Treffender als in diesem alte DDR-Witz kann niemand beschreiben, was östlich der Elbe lief.

Ok, unter humanem Aspekt war der einzige deutsche Arbeiter- und Bauernstaat bestimmt kein Brüller, der Block, in den er eingebunden, auch keine Gegend, in der ich leben wollte, aber er stand als Korrektiv, als sehr notwendige Bremse für die Gesellschaft, in der ich lebte.

“Staatsangehörigkeit?” “BRD” “Sie meinen deutsch!” “Nein, ich meine BRD, ich bin hier 1950 geboren, Bürger der BRD!” Diese kleinen Geplänkel in Ämtern und Behörden waren mehr als ein Spaß, als Beamtenärgerei, waren mir ein Bedürfnis. Ich fürchtete mich vor einem vereinten Großdeutschland.

Nationalität, Nationalgefühl, Nation, was war denn das. Was wir damit erreicht hatten in etwas mehr als 70 Jahren “Deutschland, Deutschland über alles”! Bekannt, nachlesbar. Zwei Weltkriege, weltweit einmalig ’tüchtiges’ Umgehen mit Andersdenkenden, Andersglaubenden, kein Grund stolz zu sein auf so etwas wie deutsche Nation.

Ich war vielleicht Westfale, auch wenn die Ureinwohner des Münsterlandes da ganz anderer Meinung sein würden, aber Deutscher, das war nicht so mein Ding.

Gut, ich zahlte meine Steuern in “Deutschmark”, meine Sprache klang entfernt dem Hochdeutschen ähnlich, aber ich hatte mit dem Stahlarbeiter in Lothringen, dem Lehrer in Katalonien, dem Angestellten in Milano mehr gemeinsame Interessen als mit dem Wahlkönig Franz-Joseph des blau-weißen Freistaates.

Wenn ich mir anschaute, was um mich herum vorging, - in der Wolle gefärbte Demokraten, nur mit Mühe auf schwarz lackierte Braune, Mehrheitsbeschaffer, die alle vier Jahre ihre Stimme abgaben und dann nichts mehr zu sagen hatten, bewußte Staatsbürger, für die Bundesrat ein Ersatzteil der Bundesbahn und Bundestag ein zusätzlicher arbeitsfreier Tag war,- dann konnte ich den Franzosen sehr gut verstehen, der meinte: “Er habe Deutschland so gerne, daß er sehr gut zwei davon vertragen könne!”

Und dann fiel die Mauer!

Ich freute mich für die Leute auf der anderen Seite, und ich fürchtete mich vor dem Vorhersehbaren.

Winnetou rettete seine roten Brüder, wenn sie von weißen Händlern, Siedlern und Oelprinzen mit Feuerwasser, Glasperlen und billigem Schund um ihr Land betrogen werden sollten. Wer rettete jetzt unsere roten Brüder und Schwestern davor -mit Bananen, Coke und Begrüßungsgeld- vom großen, dicken Vater in Bonn, der einen Platz im Wigwam der Geschichte suchte, den Thyssens und Krupps, den Siemens und Uhses, den Karstadts und Schneiders noch viel schlimmer über den Tisch gezogen zu werden?

Die Ansätze waren gut. “Wir sind das Volk”, runde Tische, “Stasi in die Produktion”, 40 Jahre Erfahrung, daß man Bonzen kein, aber auch kein Wort glauben darf.

Doch aus “Wir sind das Volk” wurde über Nacht “Wir sind ein Volk” und die zweite Strophe dieses Liedes lautete dann “D-Mark wir kommen!”

Wie recht sie hatten, sie waren ein Volk, waren sich nach über 40 Jahren immer noch sehr ähnlich, glaubten immer noch, was ihnen Politiker vorschwatzten, Kapitalisten ihnen vormachten. Ihr Sein hatte nicht ihr Bewußtsein verändert, ihr Bewußtsein bestimmte ihr Sein.

Auch die D-Mark kam, kam wie Feuerwasser, Pocken und Masern über die Indianer. Sie besoffen sich daran, an Fernsehern, Autos, Kühlschränken und gingen zu Grunde, verloren alles, auch das, was neben dem Politischen ihre Identität ausgemacht hatte. Sie wurden Kolonie.

Und der braune Muff zog durchs wiedervereinigte Land, durch Rostock, Dresden, durch Sachsen und Brandenburg, durch Solingen, Mölln, München und Lübeck. Nur diesmal gab es kein Korrektiv mehr.

Jetzt sitze ich hier in diesem Deutschland, das immer noch BRD heißt, heimatlos und schäme mich. Nicht dessen was geschehen ist, daran habe ich nur geringen Teil, ich konnte es nicht ändern. Ich schäme mich meiner Gedanken und Träume: Deutschland in den Grenzen von 1989!

Und ich schäme mich für die Wirklichkeit: Wir sind wieder wer !


PS. Heute würde ich vielleicht gehen, aber wo ist jetzt drüben?

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