Neujahrsnacht in Wolgograd

Aus einem Brief.

Sonntag, den 12. Januar 1992

Neujahr hab ich dieses Jahr zweimal hintereinander gefeiert; zuerst nach Wolgograder Zeit und eine Stunde später dann nochmal nach Moskauer Zeit. In kleinem Kreis bei Freunden; entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten: vorm Fernseher. Zuerst lief der Wolgograder Sender; und als dort Neujahr durch war, schalteten wir um auf den Moskauer und harrten dem nächsten Jahreswechsel.

Diese Neujahrsfete am Fernseher war nicht einmal so uninteressant. Im Gegensatz zu den westlichen Neujahrsprogrammen war da kaum ausgearbeitete Gekünsteltheit (trotz des offensichtlichen Bemühens, sie nachzuahmen). Die Conferenciers wandten sich, halb im Scherz, halb im Ernst, an die “ehemaligen Genossen” und die “ehemaligen Bürger der Sowjetunion” und machten keinerlei Versuch, die Probleme hinter irgendeiner glänzenden Fassade zum Verschwinden zu bringen; sie wurden angesprochen; und es schwang - nicht gekünstelt, sondern echt - die Zuversicht mit, dass, wie ernst auch immer die Lage sei, man schon irgendwie damit fertig werde. Eine erfrischende Offenheit und Ehrlichkeit, wie sie auch hier im Fernsehen immer seltener wird. Aber zu Neujahr lebte sie nochmal auf. - Die Show-Einlagen waren von wohltuender unfreiwilliger Komik; da passte überhaupt nichts zusammen. Ein langhaariger, etwas fülliger junger Mensch, den man sich seinem Auftreten nach als Verkehrspolizist oder als Platzanweiser im Kino vorstellen könnte, sang in einer sehr schwülstigen Melodie ein Lied mit sehr sachlichem Text über Liebe, Schicksal und Abschied und was es sonst in der Richtung noch so gibt. Unterstützt wurde diese Sachlichkeit durch seine Bewegungen, die wie gesagt an die eines Verkehrspolizisten oder eines Platzanweisers erinnerten. Bei fachmännischer Ausarbeitung von Text, Musik und Vortrag in der unfreiwillig eingeschlagenen Richtung käme ein ausgezeichnetes Groteskical zustande. - All dies in wohltuendem Kontrast zu den zum Glück noch nicht erreichten westlichen Vorbildern, wo in ausgeklügelter professioneller Rafinesse ein glattes Gespinst aus Dummheit gewoben wird, das auch nicht den geringsten Durchschlupf zum Menschlichen mehr frei lässt.

Die Neujahrsnacht verbrachte ich im Stadtzentrum von Wolgograd; ich wohnte ca. eine Straßenbahnstunde im Süden der Stadt. Man fährt an kleinen Siedlungen aus bunten, zum Teil windschiefen Holzhäusern vorbei; überall Steppengras. Diese Strecke fuhr ich auch am Neujahrsmorgen. Irgendwo stieg eine Gruppe angetrunkener junger Leute zu. Sie begannen nun aber nicht etwa zu randalieren, sondern sangen - sogar recht diszipliniert - im Chor alte Volkslieder; und zwischendurch wünschten sie ein frohes neues Jahr und fragten, warum wir alle so ernst seien.

Insgesamt ist die Stimmung in dieser Gegend besser als in Moskau. Auch die Strassen sind nachts wesentlich sicherer; möglicherweise sogar sicherer als in Dortmund. - Apropos Randalieren: Einmal hörte ich in der Moskauer Metro ein vielstimmiges Gegröhle. Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass ich das in Russland zum ersten Mal hörte und dass den Russen diese Art von Zusammenrottungen fremd zu sein schien; und wie ich näher hinhörte, merkte ich denn auch, dass da in Deutsch gegröhlt wurde.

(Nachbemerkung 7. April 2002, Tbilissi: Wenn ich an jene Zeit diffuser Aufbruchshoffnungen zurückdenke und mir den anschließenden Verfall - den ich teilweise aus nächster Nähe miterleben durfte - vergegenwärtige, packt mich das Grausen. Wer kann ermessen, was da für Chancen verpasst wurden!)

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