Der letzte Fingerzeig

Hawking findet zur Jahrtausendwende die Weltformel

»Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei neue Theorien unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, ja der Wirklichkeit selbst, gründlich verändert. Mehr als fünfundsechzig Jahre später sind wir noch immer damit beschäftigt, ihre Konsequenzen zu sondieren und die beiden Systeme zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, die - wenn dies gelänge - alles im Universum beschriebe.« —S.W. Hawking

Unsere kleine Geschichte - wir wissen nicht genau, ob es sich um eine Komödie oder Tragödie handelt - spielte sich an der Schwelle zum Jahr 2000 ab. Ein Jahr, das mit trockener Vernunft betrachtet ein Jahr wie jedes andere hätte sein müssen. Es war ein Jahr mit 12 Monaten, 4 Jahreszeiten, vielen Umweltkatastrophen und einigen Kriegen. Ein Jahr also, das sich von den vorhergehenden genauso wenig unterscheiden lässt wie von den darauffolgenden und doch war es ein ganz besonderes Jahr. Die trockene Vernunft ist des Menschen Sache nämlich nicht. Der trotzige Eifer und die sture Beharrlichkeit, mit der der Mensch bemüht ist, sich selbst als ein vernünftiges Wesen zu definieren, sind hierfür die besten Beweise. Das Besondere an diesem Jahr war genau betrachtet eigentlich nur die Zahl: 2000. Der Mensch schien nicht glauben zu können, dass ein Jahr mit so vielen Nullen ein gewöhnliches Jahr sein sollte, und so ließ er es sich nicht nehmen, dieses Jahr besonders freudenvoll zu begrüßen. Bereits zweieinhalb Jahre zuvor, genau gesagt 1000 Tage - vermutlich wieder wegen den vielen Nullen - begann man, an großen Plätzen den Countdown auf digitalen Anzeigen zu zählen. Feuerwerke nie gesehener Größe und Farbenpracht erhellten dann, endlich bei Null angelangt, die Neujahrsnächte aller Metropolen der Welt. Während das gemeine Volk sich damit begnügte, tanzend, tobend und trinkend durch die Straßen zu ziehen, behielten sich einige Reiche das Recht vor, sich von der Masse abzugrenzen, indem sie sich ein Neujahrsvergnügen der besonderen Art gönnten. Um auch wirklich die Allerersten zu sein, die das neue Jahrtausend begrüßen, flogen sie so nah wie möglich an die Datumslinie heran und ließen auf einer Insel mitten im Pazifik die ersten Sektkorken knallen. Kaum die erste Flasche geleert bestiegen diese seltsamen Reiselustigen erneut das Flugzeug, um diesem einmaligen Erlebnis die Einmaligkeit zu rauben. Der Erdbewegung entgegeneilend erlebten sie das Silvesterspektakel immer wieder aufs Neue: In Sydney, Jerusalem, Berlin, New York und Los Angeles Halt machend gelang es ihnen so, gleich sechs mal dem neuen Jahr und vor allem sich selbst ihres genialen Treibens wegen zuzuprosten.

Was hatte es auf sich mit diesem neuen Jahr, Jahrhundert, Jahrtausend, dass sich die Menschen zu solchen Kindereien gehen ließen? Diese Zahl: 2000 muss stimulierend gewirkt haben, sie belebte die Phantasien der einfachsten Gemüter und rief Visionen hervor bei denen, die sich für intelligenter hielten. Im Vorfeld dieser Silvesternacht wurde ein jeder zum Propheten, zum Hellseher, Kartenleger, Kugelschauer, Weltenuntergangbeschwörer oder Paradies-auf-Erden Orakelnder. Irgend etwas musste geschehen, wenn die Uhr 2000 schlägt. Eine Zahl mit drei Nullen, ganz klar, das konnte nicht ohne Folgen bleiben.

Ein neues Zeitalter würde hereinbrechen, darüber waren sich alle einig. Diskussionen fanden nur darüber statt, wie dieses wohl aussehen werde. Das eine Lager sah in der Jahrtausendwende die Apokalypse voraus. Um sicher zu gehen, dass diese Prophezeiung auch in Erfüllung gehen wird, halfen manche schon vor der Jahrtausendwende mit ein paar Giftbomben nach, während andere aus Vorfreude über das kommende Ereignis kollektiven Selbstmord begingen. Das andere Lager glaubte, bei Jahresende die Pforte zu einem neuen, goldenen Zeitalter der Naturwissenschaft und Technik aufzustoßen. Das neue Jahrtausend werde dank Naturwissenschaft und Technik endlich zu Allwissenheit, Allmacht und allumfassenden Wohlstand führen. Es herrschte Aufbruchstimmung, man las viel von einer neuen industriellen Revolution durch Computer und Mikroelektronik, die das Leben erleichtern werde. Man hörte von Anzeichen, die darauf hindeuten sollten, dass der Mensch die nötige Vernunft und die nötige Technik entwickeln werde, um die Probleme der Zeit in den Griff zu bekommen und schließlich glaubte man sich bei der Suche nach der Weltformel kurz vor dem Ziel.

Mit diesem bunten Treiben hatte der Held unserer Geschichte wenig gemein. Wenn wir zu Beginn gesagt haben, dass die Vernunft des Menschen Sache nicht ist, so dürfen wir bei diesem nüchternen Kopf getrost eine Ausnahme machen. Unser Held ist Physiker und nicht nur das, er ist theoretischer Physiker. Dieser Mann schien überhaupt nur ein Organ zu besitzen und das war sein trockener, unbestechlicher, alles messerscharf analysierender Verstand. Seine Arbeit und sein Charakter bedingten, dass er so gut wie kein anderer mit Zahlen umzugehen wusste, und so ist es nicht erstaunlich, dass er die ganze Euphorie, die man mit dem Jahr 2000 verband, nur mit einem gelangweilten, ja mitleidigen Lächeln registrierte. Er betrachtete es allenfalls als ein bemerkenswertes Phänomen, wie dumm, wie naiv, wie unlogisch die Menschen sein können, dass sie sich zu solchen Spektakeln hinreißen ließen nur weil ein neues Jahrtausend beginnt. Schließlich sei alles eine reine Definitionssache, mehr nicht. “Würden wir zum Beispiel nicht die Geburt Jesu, sondern die Geburt Newtons als Nullpunkt unserer Zeitskala wählen, so befänden wir uns heute nicht im Jahre 1999, sondern im Jahre 356, und die Welt sähe deswegen nicht anders aus”, bemerkte er einmal einem Journalisten gegenüber. Während also die Welt Kopf stand, arbeitete er unbekümmert weiter, weil er ein vernünftiger Mensch war. Während die Menschheit am 31. Dezember 1999 um 0.00 Uhr von einer kollektiven Hysterie ergriffen wurde, blieb er ruhig sitzen, weil er gelähmt war. Er hätte gar nicht tanzend, tobend und trinkend durch die Straßen ziehen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Tanzen lässt es sich nur schwer, wenn man im Rollstuhl sitzt, an toben und lärmen ist überhaupt nicht zu denken, wenn Kommunikation nur noch mittels eines Computers möglich ist, und trinken macht auch nicht so viel Spaß, wenn man dazu eine Pflegerin benötigt. Unser Held war von den Fußspitzen bis zum Kopf gelähmt, er litt an einer bizarren Krankheit, die langsam aber unaufhaltsam ein Körperteil nach dem anderen lahmlegte. Eigentlich hätte er schon längst tot sein müssen. Nach der Diagnose seiner Krankheit teilte man ihm mit, dass er bestenfalls noch fünf Jahre zu leben hätte, doch das war vollkommen inakzeptabel. Im Jahr 1999, 36 Jahre nach dieser Diagnose, konnte er zwar nicht mehr als einen Finger seiner rechten Hand, seine Mundwinkel und ein Auge bewegen, aber mehr benötigte dieser Mensch auch nicht, da sein Gehirn tadellos funktionierte. Ja man ist geneigt zu sagen, dass sein Verstand immer besser und immer schärfer arbeitete, je mehr sein Körper im Verfall begriffen war, so als ob die mangelnde Beweglichkeit durch immer schärferes Denken kompensiert würde. Was machte es, dass er die Luft durch eine Kanüle unterhalb des Kehlkopfes atmete, wenn er dafür mit Einstein und Newton verglichen wurde. Wenn man das gesamte Universum in seinem Kopf herumträgt, ist es nicht schlimm, dass man morgens nicht joggen gehen kann.

Unser Held war also alles andere als Durchschnitt, er fiel aus dem Rahmen in jeder Beziehung. Wir sagten bereits, dass er mit den ganzen Jahrtausendwende-Kindereien nichts zu tun hatte. Er hatte wahrlich wichtigeres zu tun, als sich mit solchem Firlefanz abzugeben. Im Grunde genommen war die ganze Welt für ihn Firlefanz, die ihn vom Denken abhielt. Den Kopf voll mit Superstrings, schwarzen Löchern und Singularitäten übersah er einfach seine Mitwelt und trotzdem schaute diese ununterbrochen auf ihn. Es gab nämlich doch etwas, dass ihn mit seiner Zeit verband, und das war der Traum von der Weltformel, dem endgültigen Verständnis des Universums.

Die Weltformel - sie zu entdecken würde wahrlich einen besonderen Erfolg der Wissenschaft markieren. Eine solche Formel wäre nicht einfach eine neue Theorie, die den Menschen wieder mal um ein paar Erkenntnisse reicher machen würde, sondern vielmehr der Weisheit letzter Schluss. Eine Antwort - die Antwort - auf alle Fragen. Wer die Weltformel kennt, der weiß alles! Keine Frage - keine -, die nicht durch sie zumindest theoretisch beantwortet werden könnte. Alles ließe sich aus dieser Formel berechnen, egal ob man nach dem Wetter nächster Woche auf Neptun oder nach der Erwiderung einer sehnsüchtigen Liebe fragt. Es bliebe zuweilen wohl das Problem, dass einige Parameter nur schwer zu bestimmen sind und eine Berechnung daher nicht immer absolute Aussagen liefern würde. Aber was bedeutet das schon im Vergleich zu der alles bestechenden Tatsache, dass es dem Menschen mit der Entdeckung der Weltformel gelingen würde, sich mit einem Schlag zum würdigen Herrscher und Bezwinger der Natur zu erheben. Die Weltformel wäre die Siegesurkunde, die schwarz auf weiß dokumentiert, dass der Mensch eben doch schlauer ist. Wer sollte sich mit dem Menschen dann noch messen können, was gäbe es darüber hinaus noch zu wissen? Kurz gesagt: Die Weltformel ist der Schlüssel, der in jedes Schloss passt. Sie aufzuspüren ist der Menschheitstraum schlechthin.

Man rannte dieser Formel hinterher seit es Wissenschaft gab, doch noch nie wähnte man sich so kurz vor dem Ziel wie zu Lebzeiten unseres körperlich gelähmten aber geistig freien Physikers, und dass dem so war, war im wesentlichen sein Verdienst. Er war die Leuchte seiner Zeit, neben dem alle anderen Naturwissenschaftler abgebrannten Teelichtern glichen, die von seinem strahlendem Glanz völlig überdeckt wurden. Wenn jemand diesen Universalschlüssel finden würde, dann musste er es sein. Alle Hoffnung der Menschheit endlich Allwissenheit zu erlangen, endlich alle plagenden Fragezeichen, die sich noch hinter so vielen Dingen verbargen, wegradieren zu können, lag auf ihm, und er selbst hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als dieser Hoffnung gerecht zu werden. Sein ganzes Leben widmete er dieser Suche, und er wollte nicht eher aufgeben, bevor das Ziel seiner Bemühungen erreicht war. Wie sonst hätte er 37 Jahre lang einer Krankheit trotzen können, die eigentlich schon nach drei Jahren in den Tod führen sollte, wenn nicht durch den unerschütterlichen Willen dieses Geheimnis aller Geheimnisse zu lüften und der Geschichte der Menschheit seinen Fingerabdruck aufzustempeln?

In besagter Silvesternacht war unser Rollstuhl fahrender Kopf also nicht am Feiern. Er konnte es nicht, und er wollte es nicht. Seine Zeit wurde langsam knapp, das spürte er, und er verwendete jede freie Minute, die ihm blieb, für seine Forschungen und Berechnungen. Um so ärgerlicher war es, dass selbst die einfachsten Rechenschritte für ihn ein mühseliges Unterfangen waren. Die Krankheit hatte sich schon vor langer Zeit auf sein Sprachorgan gestürzt und vollständig lahmgelegt. Vom Hals abwärts blieb überhaupt nur noch der Mittelfinger seiner rechten Hand, der auf seine Befehle hörte. Dieser Mittelfinger wurde so zu seinem Mund und einzigen kommunikativen Draht zur Außenwelt. Durch ihn bediente er einen von ihm selbst erdachten Computer, der an seinem Rollstuhl befestigt war. Für jede Lebensäußerung, sei es der Wunsch, seinen Kopf in eine bequemere Lage bringen zu lassen oder die Mitteilung eines neuen Geistesblitzes, war er auf diesen Finger angewiesen. Mit ihm bediente er einen Cursor, um aus einem abgespeicherten Wörterbuch die geeigneten Wörter herauszusuchen und zu Sätzen zusammenzufügen. Weniger gebräuchliche Wörter wie etwa Fluoreszenzspektroskopie musste er Buchstabe für Buchstabe eintippen. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten war nicht nur mühsam, sondern auch zeitraubend, und gerade letzteres ärgerte ihn besonders. Gerade er, von dem der Tod schon den größten Teil zu sich geholt hatte und dem nicht mehr viele Jahre bleiben würden bis die Lähmung auch in sein Hirn gekrochen kommt, gerade er musste sich bei seinen Bemühungen mit solchen Hindernissen herumschlagen.

Seine Jagd nach der Weltformel kam ihm manchmal vor wie ein Versteckspiel. Sie kokettierte mit ihm, ließ ihn in ihre Nähe kommen und ihn ihren kalttrockenen Atem der Vernunft, den er so liebte, verspüren. Doch jedesmal wenn er zupacken wollte verschwand sie wieder und hinterließ eine öde Landschaft neuer ungelöster Fragen und Probleme. Er schoss seine Geistesblitze in alle Richtungen und landete so machen Treffer aber nie gelang es ihm, ihren letzten Schleier von ihrem Haupt zu reißen. Sie hatte unzählige Schleier und immer einen zuviel. Unser Held war aber ein überaus zäher Bursche, der, obwohl ihm die Zeit knapp wurde, in einem anderen Sinne über unendlich viel Zeit verfügte. Aufgrund seiner Lähmung war ihm Zerstreuung oder Ablenkung von seiner Arbeit kaum möglich. Sein Körper funktionierte nicht, er verweigerte ihm den Dienst. Nirgendwo konnte man die oft zitierte Trennung von Körper und Geist so plastisch, so real erleben wie in diesem Menschen. Sein Körper war nicht mehr als eine bloße Hülle, ein baufälliges Haus, in dem ein genialer Geist wohnte. Er konnte nichts anderes tun als denken, das heißt seinen Geist auf Expeditionen in die entlegensten Ecken des Universums und darüber hinaus zu schicken. Dabei war er so sehr auf Korrektheit des Gedankenfluges bedacht, dass er bei der Lektüre unserer kurzen Geschichte mit Sicherheit moniert hätte, dass das Universum über gar keine “Ecken” verfügt.

Er ließ sich also nicht entmutigen von der Zickigkeit, mit der sich die absolute Erkenntnis einer Eroberung immer wieder entzog und entwickelte eine gewisse Abgebrühtheit in diesem Spiel. Früher, am Anfang seiner Forschungen raste noch jedesmal sein Herz in wilder Erregung als er sich kurz vor der Lüftung des Geheimnisses wähnte. Später, mit der Routine vieler Misserfolge blieb er ganz gelassen und unbeeindruckt, wenn seine Untersuchungen ihn wiedermal einen Schritt, einen Schleier, weiterbrachten. Es ist fraglich ob er zu dem Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte spielt überhaupt noch wirklich daran glaubte, dass er jemals das Objekt seiner Begierde erreichen würde. Sein Leben ist so sehr eins mit der Suche nach der Weltformel geworden, dass es schwer zu sagen ist, ob die beschriebene Abgebrühtheit nicht vielleicht besser den Namen der Gewohnheit verdient hätte. Eines lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen: Er ist vorsichtiger geworden. Vorsichtiger in dem Sinne, dass seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Laufe der Zeit immer weniger wurden und schließlich ganz aufhörten. Die Fachwelt, und nicht nur diese, sah darin ein Zeichen, dass unser Held kurz vor dem Durchbruch stehen musste, ihn vielleicht schon geschafft hatte und nun dabei war, die letzten Brocken beiseite zu räumen, bevor er den Blick freilegen würde für des Menschen größte Tat. Seine nächste Veröffentlichung würde seine letzte sein, da dann alles - ja alles - gesagt sein würde.

Hatten diese Leute recht mit ihren Vermutungen beziehungsweise Befürchtungen (denn bei so manch einem waren diese Gedanken eher mit dem Gefühl der Angst als der Hoffnung oder Befreiung verbunden)? Ja und nein! Unser Forscher hatte tatsächlich große Fortschritte gemacht und kam seinem Ziel bedrohlich nah. Aber sein Schweigen hatte andere Gründe: Unser Geist auf Rädern wusste nicht wie weit vorgedrungen er schon war. Jahrzehntelang grub er sich nun schon durch ein Meer von Fragezeichen mit jedem Spatenhieb mindestens so viele Fragen freilegend wie beseitigend. Wir vermuteten es bereits, er war müde geworden und in Zweifel geraten, ob sein Spaten jemals auf Grund stoßen würde, ja ob es diesen überhaupt gibt. Es ist tatsächlich kaum mehr als eine Vermutung, da von ihm selbst nie eine Äußerung zu vernehmen war, die darauf hätte schließen lassen. Im Gegenteil, in den wenigen Interviews, die er auserlesenen Journalisten gewährte, bekundete er absolutes Vertrauen in die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes, namentlich des eigenen, das hochgesteckte Ziel zu erreichen. Aber wenn wir von Zweifel und Müdigkeit sprechen, dann von solcher Art, dass sie dem Betroffenen nicht zu Bewusstsein kamen. Tiefsitzende Zweifel, die er sich selbst niemals hätte eingestehen können, da sie nichts geringeres als sein Lebenswerk und den Triumph der menschlichen Vernunft über Aberglaube und Scheinwissen betrafen. Diese Zweifel und diese Müdigkeit ließen sich nur durch neue ungewohnte Verhaltensweisen in seinem Leben erahnen: Es kam vor, dass er seinen Rollstuhl von seinem Schreibtisch weg an das Fenster steuerte, seinen Gehilfen hinaus schickte und so eine halbe Stunde oder länger hinausblickte mit einem weichen, melancholischen Ausdruck in seinen starren Augen. Manchmal saß er auch in seinem Rollstuhl und es kam Außenstehenden vor als würde er arbeiten, da sein Körper beziehungsweise das, was hiervon noch als sein bezeichnet werden konnte, in einer Pose des Denkens verharrte. In Wirklichkeit kreisten seine Gedanken um sein Leben und den Tod, der wohl nicht mehr allzulange auf sich warten lassen würde. Verhaltensweisen, die wenig verwunderlich erscheinen, so mag man denken, erst recht für einen Menschen mit einem so ungewöhnlichen Schicksal. Und doch waren diese äußerst verwunderlich, da in seinem bisherigen Leben noch nie dagewesen. Wir haben es schließlich mit einem Wissenschaftler zu tun, dessen übernatürlicher Ehrgeiz und unbeschreibliche Leidenschaft untrennbar mit eben diesem ungewöhnlichen Schicksal verbunden sind und der ein solches Verhalten, wenn es ihm denn zu Bewusstsein käme, sicherlich als unwürdige Schwäche interpretiert hätte. Seine unbewusst gehegten Zweifel waren aber wohl der eigentliche Grund für den Rückgang der Veröffentlichungen in der Fachpresse. Seine Vorsicht war nichts anderes als Skepsis. Skepsis darüber ob er den richtigen Weg ging, ob sein Weg zu dem Ziel führen würde. Er war ein gewissenhafter Wissenschaftler, der stets voller Jähzorn und Verachtung auf die Flut von halbfertigen und schöngeschliffenen Ergebnissen blickte, die in der Fachliteratur von seinen sogenannten Kollegen veröffentlicht wurden. Wenn er selbst eine neue Theorie oder ein neues Ergebnis publizierte, dann nur wenn sie absolut “wasserdicht” waren, wie man in Fachkreisen eine hieb- und stichfeste Veröffentlichung nannte und genau diesbezüglich war unser Held der theoretischen Physik, der sich anschickte zum Held der Menschheit zu werden, unbewusst ins Zweifeln geraten. Seine Veröffentlichungen blieben aus, da seine Ergebnisse seinen hohen Ansprüchen immer um einer Kleinigkeit wegen nicht genügten. Er war nah dran, sehr nah. Er konnte sein Ziel sehen aber nie greifen. Mit jedem Schritt, den er vorwärts ging wich es einen Schritt zurück, und so ging es schon seit Monaten, eigentlich schon seit Jahren. Unermüdlich schritt er vorwärts, ohne den Abstand verringern zu können. Der Prozess hatte sich im Laufe der Zeit verselbstständigt, er wurde zum Selbstzweck und wie bereits erwähnt, wissen wir nicht, ob unser Held noch an eine Wendung in diesem sisyphusähnlichem Treiben glaubte.

So saß er da, in der Nacht zum Jahre 2000, seiner einzigen Beschäftigung nachgehend, die er noch ohne fremde Hilfe durchführen konnte: denkend, jagend, versuchend alle Theorien dieser Welt zu einer einzigen allmächtigen zusammenzufassen. Er verfolgte einen neuen Ansatz, wir wissen nicht der wievielte es war. Unzählige waren ihm vorausgegangen. Sie zu zählen käme dem Schäfchenzählen gleich, man würde einschlafen bevor man das letzte Schaf gesehen hätte. Plötzlich passierte es! Er hatte gerade wieder eine Pause am Fenster eingelegt, wo er die Vorbereitungen zur Jahrtausendwende beobachtet hatte, und suchte nun, die Spur wieder aufzunehmen, die er seit einigen Tagen verfolgte. Es war eine vielversprechende Idee, der er da nachging, so vielversprechend wie alle vorhergehenden auch “und so vielversprechend wie alle kommenden”, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Unser neuzeitlicher Sisyphus rollte wieder seinen Fels den Berg hinauf. Er formte Gleichungen um, fasste zusammen, definierte Randbedingungen, führte Variablen ein, vereinfachte, formte wieder um, fasste wieder zusammen immer weiter und tiefer in die komplexe Materie hinein, immer höher den Berg hinauf. Seinen Computer benutzte er hierzu praktisch nie, nur in seltenen Fällen hielt er ein komplexes Zwischenergebnis fest, um dann an einer anderen Stelle dieser gewaltigen Gedankenbaustelle weiter zu basteln. Längst kannte er alle Bausteine, die es zu vereinigen galt, auswendig. Seit Jahren jonglierte er mit ihnen, immer auf der Suche nach dem einen Geistesblitz, nach der einen Hypothese, die alle Teile zu einem Gebilde zusammenfügen sollte. Er kam gut voran. Wie ein Radfahrer, der einen hohen Gang eingelegt hat, ging es anfangs zwar nur schwierig und nicht sehr zügig vorwärts, doch mit jedem weiteren Tritt in die Pedale ging es leichter und schneller und immer schneller voran. Gleichungen monströsen Ausmaßes fielen in sich zusammen, schrumpften auf Kleinstmaß und ließen sich miteinander verbinden und weiter vereinfachen. Umformungen, über denen er seit Jahren brütete, an deren Möglichkeit er kaum noch geglaubt hat, vollzogen sich jetzt innerhalb von Sekunden. Mit jedem Schritt, mit jedem Tritt ging es immer leichter und schneller. Ja man möchte sagen, dass er kaum noch hinterherkam, so schnell ging es. Es kam ihm vor als ob aus allen Ecken und Enden des Universums die einzelnen Puzzlestücke auf sein Hirn zugeflogen kamen und sich dort von ganz alleine, wie von Geisterhand geführt, zusammensetzten und auf einmal - zisch bumm - war sie da! Glasklar, eisig klar hatte er sie vor seinem geistigen Auge stehen, die Weltformel. Zisch bumm. Er wusste ganz genau, dass es hieran überhaupt nichts mehr zu zweifeln gab, denn so etwas hatte er noch nie erlebt. Sisyphus hatte den Fels den Berg hinaufgerollt und diesmal blieb der Fels liegen. Zisch bumm. Sein Herz raste wieder wie es das früher getan hatte, mehr noch als damals. Sein Finger und sein eines Auge - sein ganzer Körper also - zitterten. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, er konnte es nicht verhindern, bemerkte es wohl auch nicht, und obwohl er sich so sicher war, lautete die erste Reaktion seines Großhirns: “Was habe ich falsch gemacht, wo liegt der Fehler?” Seine Vernunft und seine Routine im Versagen geboten ihm noch einmal zu beginnen, das Erreichte zu überprüfen, doch er war zu aufgeregt - zisch bumm -, und außerdem bestand nicht der geringste Zweifel, dass hier ein Irrtum vorliegen könnte. Zisch bumm. Es war alles so einleuchtend, so einfach, dass er sich wundern musste, wie er das so lange hatte übersehen können. Zisch bumm, zisch bumm. Was war das? Zisch bumm. Er schaute zum Fenster hinaus und sah Raketen zischend aufsteigen und mit lautem Knall explodieren, es war 0:00 Uhr, das Jahr 2000 hatte begonnen.

Ein Feuerwerk unvorstellbaren Ausmaßes breitete sich vor seinem Antlitz aus. Der Himmel, er war silbern, golden, grün und gelb, von Nachthimmel keine Spur, so hell erleuchtet war er. Sein Herz raste immer schneller, sein eines Auge tanzte in seiner Höhle hin und her und strahlte mit dem Feuerwerk um die Wette. Es wollte aus seiner Augenhöhle hinausspringen, so sehr freute er sich über das, was er sah. Sein Finger krümmte sich, er wollte schreien vor Freude und stieß dabei einige unverständliche Laute aus. Er, dessen Sprachorgan seit fünf Jahren als vollkommen lahmgelegt galt, brüllte seine Freude in das neue Jahrtausend hinein. Es war unglaublich, es war vollbracht und die ganze Welt feierte. Was feierte sie da? Es bedurfte ihm einige Zeit, um zu realisieren, dass das Feuerwerk, die Jubelschreie und die Hupkonzerte nicht ihm und seiner Entdeckung galten. “Diese Tölpel da draußen feiern, als ob sie sich soeben den Thron über die Natur, ja über das Universum erobert hätten und wissen noch nicht einmal, dass sie damit recht haben!”, dachte er, als er gewahr wurde, dass er bislang allein mit seiner Entdeckung war. Was war zu tun? Er dachte an seinen getreuen Gehilfen, der ihm so viele Jahre bei seiner Suche zur Seite stand und sich für nichts zu Schade war. Er hatte ihm monatlich die neuesten Veröffentlichungen herausgesucht, die er für seine Arbeit benötigte, und vorgelesen. Er nahm ihm stets die einfacheren aber zeitraubenden Arbeiten ab ohne zu murren. In mancher durchgearbeiteten Nacht sprang er sogar für die Pflegerin ein und übernahm ihre unangenehmen aber notwendigen Aufgaben und das alles obwohl er sich in so vielen Diskussionen als nahezu gleichwertiger Kollege erwiesen hatte. Der Gute, er sollte der Erste sein, der es erfährt, doch unser siegreicher Held hatte ihn in dieser Nacht schon früh nach Hause geschickt, damit auch er an den Feierlichkeiten teilnehmen konnte. Was sollte er unternehmen? Noch ehe er hierüber einen klaren Gedanken fassen konnte öffnete sich die Tür und hereingestürzt kam sein Gehilfe zusammen mit einigen anderen Kollegen und Familienangehörigen. Sie wollten ihn abholen, wenigstens einmal für kurze Zeit von seiner Arbeit losreißen, wenigstens in diesem besonderen Moment sollte er sich doch auch mal eine Pause gönnen. Oh und was für ein besonderer Moment es war! Das dachte auch unser Held, wenn auch aus anderem Grund als wir es tun, denn er wusste noch nicht was ihm bevorstand.

Ihre Stimmen überschlugen sich. Sie wollten ihn entführen, er sollte das Feuerwerk sehen und mitfeiern. Einige von ihnen trugen Papphüte auf dem Kopf und Luftschlangen hingen um ihre Schultern herum. Schon waren sie dabei auch unseren Helden im Rollstuhl ähnlich zu dekorieren. Für ihn hatten sie passenderweise einen stilisierten Doktorhut mitgebracht, den sie ihm eh er sich versah neckisch, schräg auf den Kopf gesetzt hatten. Konfetti regnete auf seine Schultern, er wusste nicht wie ihm geschah. Er wollte sich Platz schaffen, sich frei machen von diesem lächerlichen Treiben, er wollte ihnen verkünden was geschehen ist, ihnen die Augen öffnen für die historische Tat, die er vollbracht hat und deren erste Zeugen sie unverdienterweise werden durften. Er wollte seinen Rollstuhl aus diesem Getümmel herausfahren ungeachtet dessen, ob ihm dabei jemand im Weg stehen würde oder nicht. Er wollte mit ihnen sprechen, von seinem Gehirn aus über seinen Finger, über seinen Computer, über seinen Bildschirm ihnen mitteilen, das von nun an die Welt ein neues Gesicht bekommen habe, aber er konnte nicht! In geübter Manier forderte er seinen Finger auf seinen Befehlen zu gehorchen, doch dieser rührte sich nicht! Über ein fiebriges Zittern kam dieser nicht hinaus. Panik breitete sich in seinem Gehirn aus. Was war geschehen? Er wollte direkt seinen Computer bedienen, den Rollstuhl stehen lassen, wo er war, egal, wenn er nur die Tastatur erreichen konnte, um seine Botschaft zu verkünden und die Weltformel einzutippen, doch nichts, nichts dergleichen geschah.

»Ja, wir freuen uns doch auch über diese tolle Nacht«, sagten sie. Sie konnten nicht nachvollziehen, dass er sich so sehr aufregte. Speichel rann ihm aus dem Mund, lief sein Kinn herunter und tropfte auf sein Hemd. Sein Finger, der einzige, den er noch bewegen konnte, sein Sprachrohr, seine einzige und letzte Kommunikationsmöglichkeit mit der Welt, er zitterte, verkrümmt wie er geblieben war. Sein eines Auge starrte entsetzt und fassungslos auf ihn hinunter. Er musste ihn bewegen, seine Entdeckung damit eintippen. Er musste verkünden, dass er gefunden hat, was die Menschheit sucht seit sie zu denken gelernt hat (das war zumindest seine Meinung). Er hatte es doch geschafft, die Welt musste doch erfahren, was passiert ist, doch sein Finger bewegte sich nicht, er wollte seine Krümmung nicht aufgeben. Solange der Finger noch zitterte bestand Hoffnung, das wusste er. Unser Physiker, dem Wahnsinn nahe, starrte auf ihn hinab beschwor ihn, bettelte, flehte, er solle sich bewegen. Er rief Gott zu Hilfe - Gott! -, dessen Überflüssigkeit er mit der Entdeckung der Weltformel zu beweisen geglaubt hatte, doch es half alles nichts. Das Zittern wurde schwächer und hörte schließlich ganz auf. Der Tod hatte auch ihn zu sich geholt. Die Verbindung zu seinem Hirn war gekappt. Unser Meister der theoretischen Physik hatte in seiner Aufregung nicht gemerkt, wie die Lähmung weiter in seinen Körper gekrochen kam und seinen zum Mund umfunktionierten Finger lahmgelegt hatte. “Das war’s”, dachte er augenblicklich als er seinen Finger verstummen sah, verkrümmt wie er geblieben war zeigte er direkt zu ihm hoch, als wollte er sagen “Du …!”

Die Weltformel, sie stand noch immer in seinem Hirn eingebrannt. Höhnisch lachte sie ihn aus. Er hatte sie gefangen, endlich. Nach so langem und zähem Kampf hatte er sie endlich erwischt, doch wer war nun der Wächter und wer der Gefangene? Er hatte sein Ziel erreicht und doch verloren. Was war das für ein Triumph, an dem er niemanden teilhaben lassen konnte und von dem niemand etwas wissen würde? Er kam sich verspottet vor, gedemütigt und zurechtgewiesen. Wie ein dummer, vorlauter Schüler hatte er eine Lektion erhalten.

Seine Freunde, die gekommen waren, um mit ihm zu feiern, stellten mit Befriedigung fest wie er sich beruhigte. Auch wenn ein beunruhigender somnambuler Glanz in seinen Augen zurückblieb, der von dort nie mehr verschwinden sollte, betrachteten sie die Situation als weitestgehend entspannt und beschlossen, nichtwissend über die Vorgänge in des Physikers Kopf, nun endlich zum Feiern hinauszugehen. Sie dekorierten ihn mit einigen Luftschlangen, die sie ihm neckisch um den Hals legten, und trugen ihn mit viel Lärm und Tam Tam in die hell erleuchtete Nacht hinaus. Sie forderten ihn auf, sich zu freuen und das schöne Feuerwerk zu bewundern. Sie wünschten ihm Glück für das neue Jahr und Erfolg für seine Forschungen. Ohne Anteilnahme ließ er alles über sich ergehen und starrte ununterbrochen der Weltformel in ihr zufrieden grinsendes Gesicht.

NACHTRAG

Irgendwann am nächsten Tag, es war schon der zweite des neuen Jahrtausends, begriffen die Menschen seiner näheren Umgebung, dass sein Finger gelähmt war und er nicht mehr mit ihnen kommunizieren konnte. Sie forderten ihn auf, mit seinem Auge zu blinzeln, um so auf vorher gestellte Fragen mit ja oder nein zu antworten, doch er verhielt sich überaus störrisch und antwortete nie. Man zog die Konsequenzen und sein Tagesablauf richtete sich von nun an nicht mehr nach seinen Bedürfnissen, sondern nach den Launen seiner Mitmenschen. Er aß und trank nicht mehr wenn er Hunger oder Durst hatte, sondern wenn die Pflegerin ihm das Essen beziehungsweise Trinken zuführte. Man spielte ihm Wagner vor, wenn man meinte, ihm etwas Gutes tun zu müssen, egal, ob er in Laune dazu war oder nicht, und man stellte seinen Rollstuhl vor das Fenster, “damit er die schöne Aussicht bewundern” konnte, wenn man sich um seine eigenen Dinge kümmern wollte. Da er nie irgendwelche Regungen zeigte, weder in positiver noch negativer Art, verlief das Leben seiner physikalisch ungebildeten Mitmenschen schon bald wieder in gewohnten Bahnen.

Etwas anders sah das in der Fachwelt aus. Sein Assistent hatte, beunruhigt darüber, dass nun die Suche nach der Weltformel ihr Zugpferd verloren hatte, dessen letzte Aufzeichnungen noch einmal durchgesehen. Dabei hat er so manche unbekannte Formel, mit der er nichts anzufangen wusste, im Speicher des Computers seines Meisters gefunden. Viele Tagungen und Kongresse wurden abgehalten, auf denen diskutiert wurde, ob diese mysteriösen Formeln einen Sinn hätten und wenn ja, welchen. Längst ist der Verfasser dieser neuartigen Hieroglyphen verstorben und noch immer ist kein neuer Champollion aufgetaucht, der sie entziffern könnte. Die absurdesten Spekulationen halten sich in dieser Diskussion am Leben und so weit hat man sich bereits von der tatsächlichen Bedeutung entfernt, dass wir beruhigt feststellen können, dass man dieser auch nicht mehr auf die Schliche kommen wird.

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