Der Zug der Schulzeit

Über eine Jugendliebe

An jedem Morgen war es so. In jeder Woche und jedem Monat, mit Ausnahme der Ferien. Es war nur ein kurzer Weg vom Haus seiner Eltern zum Bahnhof. In dem kleinen beschaulichen Ort, in dem es kein Gymnasium gab, war diese tägliche Bahnfahrt für ihn und seine Mitschüler erforderlich.

Es war eine Nebenstrecke, auf der das alte Dampfross sich mit Pfeifen und Rumpeln durch die grüne Landschaft quälte. Wenn die vorsintflutlichen Waggons an der Station hielten, traf der Junge weitere Freunde, die bereits an der vorigen Haltestelle eingestiegen waren. In den alten Wagen nahmen sie gewöhnlich auf den Holzbänken Platz, oder sie standen bei besserem Wetter draußen auf der offenen Plattform. Fünf Stationen waren es bis zur Stadt. Und dort ging es auf Schusters Rappen weiter bis zur Schule. Manchmal verspätete sich der Zug ein wenig. Dies wurde von allen gern genutzt, um die erste Unterrichtsstunde zu versäumen. Wenn man entsprechend bummelte, so blieb die Ausrede, dass sich der Zug verspätet habe, doch eine bestimmte Art von Wahrheit. Zwar kam man am Mittag etwas später als die Stadtkinder wieder in die Nähe von Mutters Kochtopf, doch wie das so ist: Alles im Leben gleicht sich aus.

So waren die Vor- und Nachteile des Fahrschülerdasein gleichmäßig verteilt. Vielleicht, so dachte eines Tages der Schüler Felix, vielleicht überwiegen aber auch die Vorteile. Wann nämlich hatten seine Mitschüler aus der Stadt eine so günstige Gelegenheit, die Mädchen des Lyzeums, die ebenfalls mit der alten Eisenbahn fuhren, kennen zu lernen und oft in ihrer Nähe zu sein?

Jeden Morgen und jeden Mittag fuhren eine ganze Reihe von Mädchen mit. Besonders bei schönem Wetter standen sie gemeinsam mit den Jungen auf den äußeren Plattformen der Waggons. Von den jungen Reisenden schienen sowohl die einen als auch die anderen diese aufregende Nähe zu genießen.

Felix hatte schon seit einiger Zeit ein Auge auf ein blondes Mädchen mit Zöpfen geworfen, deren reizendes Gesicht ihm besonders gefiel. Immer wenn sich ihre Blick trafen, schlug das Mädchen die Augen nieder. Wollte sie nichts mit ihm zu tun haben? Die leichte Röte in ihrem Gesicht deutete mehr auf das Gegenteil hin, aber die Schüchternheit war stärker. Auch Felix war befangen und wagte in den ersten Tagen, da er dem Mädchen Beachtung schenkte, nicht, es anzusprechen. Ein Junge aus der Klasse, Günter, machte manchmal recht dumme Bemerkungen, die für Felix und das Mädchen zwar vielsagend, aber ebenso peinlich waren. Es gibt eben immer wieder Wichtigtuer, dachte Felix, die im falschen Moment Spott anzubringen versuchen.

Zweimal war Felix nach dem Aussteigen aus dem Zug mit einigem Abstand hinter dem Mädchen hergegangen. Sie hatten, bis zu einem bestimmten Punkt, den gleichen Heimweg. Während Felix an einem Krämerladen nach rechts abbiegen musste, ging das Mädchen auf der Straße weiter geradeaus. Gewöhnlich freute sich Felix in diesen Tagen auf seinen morgigen Schulweg.

Auf einer der nächsten Heimfahrten von der Stadt, bat Felix dann seinen Freund Walter, einmal heraus zu bekommen, wie dieses blonde Mädchen heißt. Walter war immer ein Genie, wenn es um detektivische Arbeit ging. Und richtig, Walters Spürsinn trug Früchte. Während der Zug an einer Weide entlang fuhr, auf der sich mehrere Pferde ein Galopprennen lieferten und alle durch dieses Schauspiel abgelenkt wurden, bückte sich Walter zu der am Boden stehenden Büchertasche des Mädchens und las auf der dort anhängenden Plakette ihren Namen. Walter flüsterte Felix zu: »Sie heißt Thea Wienert.«

Am nächsten Morgen fasste sich Felix ein Herz. Als das Mädchen im letzten Moment im Laufschritt am Zug ankam, sprang sie dort, wo Felix stand, auf die offene Plattform des letzten Wagens. Felix half ihr, indem er ihre Tasche ergriff und es dann mit Handschlag begrüßte: »Guten Morgen Thea!« Sie lächelte in an: »Guten Morgen Felix, danke!«

Der Junge wurde nachdenklich. Sie kannte also längst seinen Namen und er fragte sich, warum er nicht schon früher so reagiert hatte? Aber so günstig war die Gelegenheit, die er heute beim Schopfe gefasst hatte, niemals vorher.

Es war an diesem Morgen eine besonders schöne Fahrt zur Schule. Für beide war dies so. Sie unterhielten sich frei und so fühlten Thea und Felix sich auch. Manchmal kamen die Worte etwas mühsam an, denn alles war so neu und so unwahrscheinlich interessant, aber das Eis war gebrochen, ihr kleines bisschen Mut wurde belohnt.

Mittags, als sie zurückkamen, ging Felix mit ihr gemeinsam vom Bahnhof weg. Und er bog auch nicht beim Krämerladen rechts ab, sondern ging noch einige hundert Schritte mit ihr bis vor das Haus, in dem das Mädchen Thea wohnte.

Diese halbstündigen Bahnfahrten und der Heimweg waren für die beiden in der folgenden Zeit immer sehr schön. Sie erzählten sich von der Schule, von den schwierigen Fächern und davon, dass Thea im Sportverein Handball spielte und gern Schwimmen ging. Hier trafen sich die gemeinsamen Interessen und so sah man beide in der nächsten Zeit öfter in der Schwimmhalle der Stadt wieder, auch wenn sie dadurch noch einen Zug später in den Heimatort zurückkamen.

Es wurde und blieb eine schöne Jugendfreundschaft. Bis sie sich aus den Augen verlieren sollten. Felix zog mit seinen Eltern in eine südliche Stadt des Landes und er begann nach dem Abitur ein Studium. Als sie sich trennen mussten, hat Thea ihm noch ein Geheimnis verraten:

An jenem Morgen, als sie fast den Zug verpasste und Felix ihr beim Einsteigen half, hatte sie längst vorher hinter einem Pfeiler am Bahnhof gestanden und beobachtet, auf welcher Plattform sich Felix befand.

»Eigentlich wollte ich das nie sagen, aber jetzt, da wir uns trennen, wollte ich fair sein und es dir verraten!«

Felix freute sich über ihre Aufrichtigkeit, und er war glücklich darüber. Es war eine schöne Freundschaft gewesen.

Felix und Thea haben sich nie wiedergesehen, aber beide haben sich auch wohl nie ganz vergessen.

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