Mit dem Schnee kamen die Tränen

Der Vater eines kleinen Mädchens fällt in Polen

Es war Anfang Dezember 1944, der letzte Kriegswinter. Vor Kälte schlotternd, mit rotgefrorenen Wangen, stürmte ich ins Haus, um mich ein wenig aufzuwärmen. Als ich händereibend die sonst so heimelige Wohnküche betrat, schlug mir eine ungewohnte Kälte entgegen. Etwas Bedrückendes lag in der Luft.

Statt meiner Mutter stand eine Nachbarin am Küchenherd und machte sich dort zu schaffen. Meine Mama, die hochschwanger war, saß mit ihrem unförmigen Leib am Küchentisch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt. Beide Frauen schnupften und weinten in ihre Taschentücher. Erschreckt lief ich zu meiner Mutter und fragte sie: »Mama, warum weinst du?« Sie brachte kein Wort heraus, nahm mich nur schweigend in ihre Arme und drückte mich fest an sich. Ich spürte, wie ihr Leib von ihrem heftigen Schluchzen erschüttert wurde und ihre heißen Tränen meine kleinen, verfrorenen Hände netzten. Ungeduldig bohrte ich weiter: »Sag' doch, Mami, was ist geschehen?« Da nahm mich die Nachbarin zur Seite und erklärte mir, es sei ein Päckchen mit einem Brief angekommen, in dem uns mitgeteilt wurde, dass mein Vater in Polen gefallen sei und sie deshalb so traurig wären. Diese Worte trafen mich wie Peitschenhiebe.

Dass Soldaten im Krieg fielen, war etwas, das man jeden Tag zu hören bekam. Ich hatte mir nie viel Gedanken darüber gemacht. Jetzt wurde mir zum ersten Mal bewusst, was das bedeutete. Mein geliebter Vater war tot, in Polen gefallen. Mit Polen brachte ich sofort Kälte, Schnee und Grausamkeiten in Verbindung. Irgendwann hatten Flüchtlinge, die einmal kurz bei uns untergebracht waren, davon erzählt. Aber “gefallen”, das hieß doch, mein Papa würde nie wieder zu uns zurückkehren. Mein Papa, der Fremde. Gerade in seinem letzten Fronturlaub hatte ich ihn liebgewonnen, hatte begriffen, was Papa hieß.

Vor seiner letzten Abreise hatte er auf dem Bahnsteig meiner Mutter die bange Frage gestellt: »Was meinst du, werde ich zurückkommen?« Und Mutter hatte ganz spontan erwidert: »Natürlich kehrst du zu uns zurück!« Wieso konnte dann so etwas Furchtbares geschehen? Es konnte doch nicht auf einmal alles vorbei sein. Und mein langersehntes Geschwisterchen, er würde es gar nicht sehen können. In meinem kleinen Kopf schwirrten die Gedanken wie aufgescheuchte Vögel durcheinander.

Dann fiel mein Blick auf das offene Päckchen auf dem Küchentisch. Ein Feldpostpäckchen, wie ich es schon häufig gesehen hatte. Obenauf lag aufgeschlagen Vaters Brieftasche. Ich sah darin ein Foto von meiner Mutter und mir. Es war, wie die Brieftasche, durchschossen und total mit angetrocknetem Blut verschmiert. Ich wagte nicht, es anzurühren. Mir war ganz übel, ich fühlte mich elend und allein. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Wie betäubt stellte ich mich ans Fenster und starrte in den weißen Schnee, in dem ich gerade noch so fröhlich getobt hatte.

Wie schön hatte der Tag doch begonnen! Schon in der Nacht hatte es zu schneien angefangen, und am Morgen fielen immer noch dicke Flocken vom Himmel. »Es schneit, es schneit!« hatte ich ausgelassen durch das Haus gejubelt und vor Freude in die Hände geklatscht. Im Nu hatte ich mich warm eingemummelt und mich mit meinem Dackel in die weiße Pracht gestürzt. Der Hund hatte sich erst an die veränderte Landschaft gewöhnen müssen. Mit seiner langen Schnauze hatte er sich wie besessen durch die weiße Masse gepflügt.

Aus der Scheune hatte ich unter altem Gerümpel meinen Schlitten hervorgeholt. Er stammte noch aus Vaters Kindertagen. Mit Schmirgelpapier hatte ich die verrosteten Kufen ein wenig blankgerieben und Heidewitzka! Auf ging’s! Inzwischen hatten sich meine Freundinnen aus der Nachbarschaft eingefunden, und wir vergnügten uns in dem Schneegestöber. Es war ein besonders ruhiger Vormittag gewesen, ohne Fliegeralarm und beängstigenden Flugzeuggeräuschen in der Luft.

Natürlich hatten wir auch einen großen Schneemann gebaut. Um ihn mit Augen, Mund und einer Knopfleiste auf dem Bauch auszustatten, hatten wir ein paar Kohlen stibitzt, die damals Mangelware waren. Als Nase hatte eine lange, rote Rübe gedient. Dann fehlten ihm nur noch Hut und Schal. Durch die Hintertür hatte ich mich ins Haus geschlichen und heimlich aus Vaters Kleiderschrank diese Utensilien besorgt. Ein Reiserbesen wurde ihm noch in den Arm gelegt, und wir besaßen den schönsten Schneemann, den man sich nur vorstellen konnte. Vergnügt und übermütig waren wir um ihn herumgetanzt, wie um ein goldenes Kalb.

Da stand er nun, der schöne Schneemann. In meiner kindlichen Phantasie sah ich plötzlich neben ihm meinen Vater regungslos in einer riesigen Blutlache liegen. Mein großer, starker Vater, ganz hilflos und ganz allein. Das Gesicht des Schneemannes verformte sich plötzlich zu einer hämisch grinsenden Fratze. In diesem Moment verwandelte er sich für mich zum Mörder meines Vaters. Mir graute vor ihm und dem Schnee. Ein Schaudern zuckte durch meinen Körper, und ich begann fürchterlich zu frieren. Unterdessen waren im Haus die nächsten Verwandten eingetroffen, die man zwischenzeitlich benachrichtigt hatte. Dazu gehörte auch mein Großvater väterlicherseits. Er war ein stattlicher Mann mit eisernen Prinzipien. Auf mich wirkte er stets unnahbar und konnte mir nie ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln.

Für meinen Großvater war mit dem Tod meines Vaters eine Welt zusammengebrochen. Sein Lebenstraum war zerplatzt wie eine Seifenblase. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er laut jammernd und in sich zusammengesunken durch die Wohnstube hastete und mit seiner kräftigen Stimme immer wieder die Worte hervorstieß: »Das überlebe ich nicht!« Die Bedeutung dieser Worte ist mir damals nicht bewusst geworden, aber sein lautes Geschrei und seine Unbeherrschtheit, die ich nie von ihm erwartet hätte, erschreckten mich und machten mir Angst.

Mit meinem Hund verkroch ich mich, wie ein verängstigtes Reh, in eine stille Zimmerecke und versuchte, mit meinem Schmerz fertig zu werden. Ich kuschelte mich an das Tier und weinte meine bitteren Tränen in sein weiches Fell. Er spürte meine Traurigkeit und gab mir das Gefühl, verstanden zu werden.

Seit diesem schrecklichen Tag bekam ich immer eine Gänsehaut, wenn der erste Schnee fiel. Ich glaube sogar, dass ich noch heute im Schnee stärker friere als andere Menschen.

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