Schulzeit im Krieg

Ein Bauernsohn geht aufs Gymnasium.

»Morgen gibt es die letzten Zeugnisse von mir!« verkündete Lehrer Thoma uns, der vierten Schulklasse, einige Tage vor Ostern. Nun war das Ende des Schuljahres 1944 gekommen und jetzt musste entschieden werden, wer zum Gymnasium ging oder nicht.

Ich hatte schon einige Monate vorher heimlich bei meiner Mutter mal nachgefragt, ob ich, wenn das Zeugnis gut wäre, auf die höhere Schule gehen dürfte. Mit meinem Vater darüber zu sprechen, traute ich mich nicht. Ich sollte als Ältester von vier Kindern einmal seinen Hof übernehmen. Nach seiner Meinung brauchte ich dafür aber keine höhere Schule.

Ich wollte aber gar nicht Bauer werden, sondern Journalist. Auf diese Idee hatte mich irgendjemand aus unserem Bekanntenkreis gebracht. Er hatte mir erzählt, dass Journalisten, wenn der schreckliche Krieg vorbei sei, in ferne Länder reisen und über alles schreiben könnten, was sie erlebt oder sich ausgedacht hätten. Ich fand das ganz toll und das Schreiben faszinierte mich immer mehr. Oft schrieb ich beim Kühe hüten heimlich kleine Geschichten oder Gedichte, die aber keiner zu lesen bekam. Als ich einmal mit meiner Mutter darüber sprach, meinte sie, dass die Leute die schreiben, das aber mit der rechten Hand tun würden. Darum müsse ich auch immer daran denken, dass man nicht links schreiben dürfte, so wie ich es gerne machte.

Am nächsten Tag kam ich mit einem sehr guten Zeugnis nach Hause. Ich zeigte es erst einmal meiner Mutter, die gerade in der Küche war.

»Kann ich damit zum Gymnasium gehen?« fragte ich sie zweifelnd. »Das könntest du schon, aber…« Sie sah mich ernst an, strich mir über den blonden Wuschelkopf und fügte hinzu: »Mal sehen, was der Papa nachher beim Mittagessen dazu sagt.«

Wie ich es erwartete hatte, war Vater überhaupt nicht dafür. Er meinte, ich müsse ihm auch weiterhin nachmittags bei der Arbeit im Stall oder auf dem Feld helfen. Der kranke und gebrechliche polnische Kriegsgefangene Wadislav, den uns die Partei vor einigen Wochen zugeteilt hatte, hielt mein Vater für keine große Hilfe. Ich musste daran denken, was mir Wadislav vor einigen Tagen, als wir beide die Kühe zum Melken in den Stall holten, verbittert gesagt hatte. »Ich auch Kühe in Polen gehabt, aber Deutsche haben alle kaputt geschossen.« Bevor der Tisch abgeräumt wurde, war mein Vater dann doch damit einverstanden, dass ich zum Gymnasium gehen könne, wenn ich wie bisher meine Arbeiten machen würde.

Das Gymnasium lag im Kreisstädtchen, fast fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt. Morgens musste ich eine Stunde hin und mittags wieder eine Stunde zurücklaufen.

Argwöhnisch wurde ich natürlich von meinen neuen Klassenkameraden beäugt. Schnell hatte ich herausgefunden, dass der starke Adolf mit den roten Haaren, das Sagen hatte. Hin und wieder, wenn er am Volksempfänger eine Rede von Adolf Hitler gehört hatte, stellte er sich in der Pause auf die Begrenzungsmauer des Schulhofes und rief uns einige Parolen des Führers zu, die er besonders gut fand. Ich weiß noch, dass er einmal geschrieen hat: »Ihr seit mein Volk, und ihr müsst das tun, was ich euch befehle!« Er war schon ein richtiger kleiner Nazi und ich wunderte mich, dass die Lehrer ihn gewähren ließen. »Sein Vater ist ein hohes Tier in der Partei, und die Pauker haben Angst vor ihm«, flüsterte mir eines Tages einer aus meiner Klasse zu.

Der Unterricht war anfangs sehr hart für mich. Alle zwei Stunden musste ich mich auf andere Lehrer oder Lehrerinnen einstellen. In der Volksschule hatte ich vier Jahre nur den einen Lehrer Thoma gehabt. Mit der Zeit fand ich aber heraus, dass, wenn man sich genügend anstrengte, auch mit den Lehrern zurecht kam.

Nur beim Lateinlehrer Grotmann hatte ich das Gefühl, dass der mich nicht mochte. Er hatte nämlich die Nase gerümpft, als er eines Tages wissen wollte, ob es stimme, dass mein Vater Bauer sei. Was mich aber am meisten erschütterte, war, dass er nichts sagte, als fast die ganze Klasse brüllte: »So riecht er auch!« Völlig deprimiert trottete ich anschließend nach Hause und weinte mich bei meiner Mutter aus.

Am nächsten Morgen wollte ich nicht mehr in diese Schule gehen. Meine Mutter musste sehr lange auf mich einreden, ehe ich bereit war, doch loszuziehen. Meinem Vater haben wir nie etwas von der Sache erzählt.

Zwei Tage später kam der rote Adolf in der Pause auf mich zu, stellte sich breitbeinig vor mich hin, lachte höhnisch und rief so laut, dass es alle hören mussten: »Habt ihr auch Schweine?« In diesem Augenblick muss bei mir wohl eine Sicherung durchgebrannt sein. Ohne zu überlegen, verpasste ich ihm einen derartigen Schlag ins Gesicht, dass er wie ein angeschlagener Boxer zu Boden ging. Alle, die auf dem Schulhof standen, klatschen Beifall und schrieen: »Bravo!«

Seit diesem Vorfall stieg ich im Ansehen bei meinen Klassenkameraden. Obwohl ich es nicht erwartet hatte, ging Adolf mir meistens aus dem Weg. Der Unterricht machte mir danach richtig Spaß, und ich ging gerne zur Schule.

Inzwischen war es Sommer geworden und wir fuhren aufs Feld, um trockenes Heu einzufahren. Ich wunderte mich zwar, dass Wadislav nicht mit dabei war, dachte aber, dass er wahrscheinlich im Kuhstall eine andere Arbeit machen musste.

Drei Fuhren hatten wir bis abends geschafft und es sah so aus, als ob Vater sehr zufrieden war. Mutter hatte wieder wie so oft, eine leckere Milchsuppe als Abendessen gekocht. Kaum hatte mein Vater den Teller leergelöffelt, da drehte er sich zu mir herum und sagte mit ernster Mine: »Ab morgen kannst du nicht mehr zum Gymnasium gehen!«

Beinnahe hätte ich mich verschluckt, als ich das hörte. »Ja, aber …« stotterte ich total irritiert. Dann sagte Vater weiter: »Den Wadislav haben sie heute morgen abgeholt und jetzt musst du hier zur Schule gehen, damit du mehr Zeit zum Helfen hast.«

Ich starrte abwechselnd meinen Vater und meine Mutter an. »Das geht doch nicht … ich muss doch …« Weiter kam ich nicht, denn ich musste schrecklich losheulen. Ich weiß heute nicht mehr, was meine Mutter und zwischendurch auch mein Vater alles gesagt haben, um mich zu beruhigen.

Für mich war meine Welt, die ich mir so mühsam in den letzten Monaten aufgebaut hatte und in der ich trotz Krieg glücklich war, zusammengebrochen.

© Karl-Heinz Ganser

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