Was Schlimmes

Dunkel war es gewesen, als die Mutter sie geweckt hatte. Sie hatte über das Hemdchen das Leibchen und darüber zwei Pullover und auch noch die Strickjacke anziehen müssen, und zwei Röcke. Eng war es im Mantel, gar nicht richtig warm, als sie in der kalten Januarluft zum Bahnhof trabten, die Mutter mit dem Koffer, der großen Tasche und dem Rucksack und sie mit den Schwestern an der Hand, Anna und Stänzel. Die sind noch klein, sagte die Mutter, du bist schon groß.

Der Zug war voll, Kinder, viele Kinder, und Frauen, auch alte Menschen, viele Koffer, Rucksäcke, Taschen, Beutel, Pakete, Kisten. In Hirschberg mussten sie umsteigen und warten, bis es am Nachmittag weiter nach Cottbus ging. Der Zug war noch voller und blieb oft stehen, durch die Fenster sah sie Schneefelder. Alle hatten Schal, Mantel, Mütze und Handschuhe anbehalten und froren trotzdem. Stänzel hatte ja immer kalte Hände und Füße. Auch ihr war hier kalt. Und müde war sie, aber es war zu eng zum Schlafen. Sie wurde hungrig. Die Schnitten sind für später, sagte die Mutter. Da wollte sie was trinken, sie war so durstig. Die Flasche ist für Stänzel, sagte Mutter. Als der Zug stand, stieg Mutter aus. Ich hole Schnee, sagte sie, gegen den Durst. Pass gut auf, dass nichts passiert.

Sie war ja groß, bald sechs Jahre und sie konnte auf die Kleinen aufpassen und es sollte nichts passieren. Was, was konnte passieren. Etwas Schlimmes. Schlimm war, wenn was kaputt ging. Wenn alles schmutzig war. Oder wenn sie was verlor. Wenn sie sich mit Anna zankte und wenn sie sich schlugen, das war auch schlimm. Oder wenn was wehtat. Die Großen redeten von Russen, vom Vormarsch, von Gefechten, Luftangriffen und Bombern, vom Krieg. Das musste was ganz Schlimmes sein, gefährlich, dunkel. Nur nicht fragen, dann wurde die Mutter nervös. In Schreiberhau, gestern noch, war sie Schlitten gefahren, über die verschneite Wiese, weich, weiß und hell war es gewesen. Sie war zum Milchmann gegangen und hatte im Garten einen Schneemann gebaut, der glitzerte, solange die Sonne darauf schien. Und sie hatte mit Rainer, mit ihrer Puppe, gespielt. Rainer fehlte ihr, sie hatte ihn nicht mitnehmen dürfen, weil in ihrem Rucksack kein Platz war, wegen der Wäsche zum Wechseln, und in ihre Umhängetasche passten nur die zwei Schnitten und Taschentücher. Sie hatte, als sie im Dunkeln losgingen, Rainer schnell unter den Arm geklemmt, aber die Mutter hatte ihn weggenommen, und als sie zu weinen anfing, hatte die Mutter gesagt, sie müsse lieb sein und die Kleinen anfassen, sonst würde was Schlimmes passieren. Dem Rainer hätte sie sagen können, wie unheimlich alles war, wie viele Fremde im Abteil saßen und standen, dicht nebeneinander, wie bedrohlich die guckten und wie schaurig die Stimmen ringsum klangen, das Reden und Fluchen und Kreischen, am schaurigsten das Geflüster. Ach, dem Rainer hätte sie gar nichts zu sagen brauchen, der verstand alles von selbst und tröstete sie, wenn sie ihn im Arm hielt und fest an sich drückte. Jetzt hielt sie die Schwestern fest und passte gut auf und war lieb. Lieb sein, das wusste sie, hieß, tun was die Mutter wollte. Wenn sie tat, was sie selbst wollte, war sie unartig. Die Mutter hatte gesagt, sie müsste jetzt besonders lieb sein, sonst würde was Schlimmes passieren und das wäre dann ihre Schuld. Und dass was Schlimmes geschehen konnte, spürte sie in diesem ruckelnden, zischenden Zug zwischen so vielen Fremden, besonders jetzt, wo die Mutter draußen war und vielleicht nicht mehr rechtzeitig einsteigen konnte, bevor der Zug weiter fuhr. Sie war also lieb und die Mutter kam wieder und brachte Schnee mit zum Lecken, und das tat gut. Einmal lachte jemand, da musste sie auch lachen, und Rainer fehlte ihr noch mehr. Das nächste Mal, als der Zug hielt und die Mutter ausstieg, war sie wieder lieb und hielt beide Schwestern fest. Anna fest zu halten, war schwer, weil die so zappelte. Die Mutter kam mit einer Steckrübe zurück. Die wurde geschält und in Stücke geschnitten und schmeckte gut.

Nachts stiegen sie aus dem Zug aus. Wir sind in Berlin, sagte die Mutter. Sie  waren in einem Bunker. Da waren noch mehr Menschen als in dem Zug. So viele Menschen hatte sie noch nie gesehen. Ein Wald von Menschen, voller Hindernisse, eng und dunkel. Im Wald, in Schreiberhau, konnte sie zwischen den Bäumen immer irgendwie durchkommen, da konnte sie kriechen oder klettern; zwischen den Menschen hier konnte sie gar nicht durchkommen. Und im Wald in Schreiberhau roch es gut, aber hier roch es gar nicht gut, sondern komisch, unangenehm. Die Mutter ging zu der Frau mit der weißen Haube, die vor einem großen Kessel stand, und sie passte gut auf die Schwestern auf, damit nichts passierte und nichts verloren ging. Dann kam die Mutter mit einer Schüssel Suppe wieder, die war schön warm und roch normal.

Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Neue Schleuse bei Rathenow zu Tante Frieda und zu ihren Cousinen Dorchen und Hanna. Bei der Tante durften sie bleiben, die hatte ein großes Haus mit einer Schlachterei. Tante Erna war mit ihrer Traudel schon dort und half im Laden und passte auf die Kinder auf. Die Mutter bekam für sie alle ein Zimmer mit zwei Betten und alle schliefen in der Unterwäsche und mussten vorm Schlafen die Kleider und Jacken sehr ordentlich auf den Stuhl legen und die Schuhe richtig nebeneinander stellen, damit sie bei Alarm ganz schnell angezogen waren. Der Rucksack stand gleich neben dem Bett. Mutter hatte alles hineingepackt, was wichtig war, und sie durfte ihn nie vergessen, wenn sie bei Alarm zum Luftschutzbunker liefen, ganz schnell, die Straße hinunter. Es war ziemlich weit zum Bunker und die Bomber flogen schneller, als sie laufen konnte. Stänzel musste immer getragen werden und Anna oft auch, die beiden waren ja noch klein. Sie rannte schon fast so schnell wie Dorchen und Traudel und genauso schnell wie Hanna. Fast jede Nacht. Man durfte nicht reden, dann schimpften die Großen immer gleich los. Im Bunker dösten sie oder schliefen ein bisschen, und nach der Entwarnung, noch in der Nacht, gingen sie wieder nach Hause und ins Bett, und jetzt sollten sie sich richtig ausziehen und nur das Nachthemd anhaben. Aber sie schlief lieber in der Unterwäsche, weil das wärmer war. Sie solle ihren Mantel über sich legen, sagte die Mutter, ihre Unterwäsche müsse sie schon mal ausziehen.

Tags spielten sie draußen im Schnee, dann machten sie drinnen nichts schmutzig und störten nicht. Auf der Straße trafen sie die Nachbarskinder, mit denen liefen sie zum Rodelberg oder zur Havel hinunter, wenn sie nicht im Hof bleiben mussten, weil es gleich Mittag gab oder vielleicht Alarm. Traudel und Dorchen halfen aufräumen und saubermachen und abtrocknen; sie brauchten nicht in die Schule zu gehen, die war geschlossen, wegen dem Krieg. Hanna und sie passten auf Anna und Stänzel auf. Nach ein paar Tagen fuhr die Mutter noch mal zurück nach Schreiberhau, um Betten und Wertsachen zum Tauschen zu holen, denn die Russen waren noch nicht angekommen. Solange die Mutter weg war, musste sie ganz besonders lieb sein und alles tun, was die Tanten sagten und auf die Kleinen acht geben, weil sonst was Schlimmes passierte, was ganz Schlimmes. Sie war lieb, und nach einer Woche war die Mutter wieder da und hatte die Puppe mitgebracht, den Rainer. Da war alles gut, und nun konnte gar nichts Schlimmes mehr geschehen, denn jetzt würde Rainer immer bei ihr sein. Sogar in den Luftschutzkeller durfte sie ihn mitnehmen. Sie hielt ihn den ganzen Tag im Arm, beim Essen saß er auf ihrem Schoß, nur beim Schlitten fahren ließ sie ihn im Zimmer, aber beim Schlafen drückte sie ihn an sich und ihr war im Nachthemd auch ohne Unterwäsche warm.

Im Februar sah man jeden Tag Fesselballons am Himmel über Rathenow, und sie wusste schon lange, dass die was mit dem Krieg zu tun hatten und nicht zum Spielen da waren. Die Sirenen heulten auch tags, und Tante Frieda sagte,

Rathenow wird bombardiert, da sind viele Häuser kaputt. Tante Erna sagte, viele Menschen sind verschüttet und tot. Und die Mutter sagte gar nichts. Die Kinder durften nicht mehr zum Schlittenberg oder zur Havel, sondern mussten im Hof bleiben und dort glitschen. Sie durften auch nicht zu den Nachbarn und die Nachbarskinder durften nicht mehr zu ihnen, denn es konnte immerzu Alarm geben, und dann mussten Anna und Stänzel schnell die Mäntel angezogen werden, und schlimm, wenn die Schuhe nicht ordentlich neben der Haustür standen. Sie mussten ganz schnell die Rucksäcke und Taschen nehmen und losrennen, alle zusammen, damit niemand verloren ging, und sie rannten schneller als nachts.

Einmal war gleich nach dem Frühstück Alarm. Sie war gerade auf den Hof gelaufen und hatte zu den Nachbarn rüber geguckt und war ein wenig auf der Schlitterbahn zwischen den Häusern hin und her geglitscht. Das ging gut, weil die Bahn solang und glatt war, und sie wünschte sich, dass Traudel und Hanna oder der Nachbarsjunge zu ihr herauskämen. Da hörte sie die Sirenen und die Tanten riefen und sie flitzte ins Haus, nach oben, ohne die Schuhe auszuziehen, holte den Rucksack und stand zwischen den Cousinen in der Haustür. Nur Mutter mit Stänzel fehlte und Tante Frieda wurde unruhig und ging schon auf die Straße und guckte, wie alle Leute zum Bunker rannten, und rief: Dora! Endlich kam Mutter mit Stänzel auf dem Arm und sagte: Die Windel war voll.

Als sie die Schwester auf dem Arm der Mutter sieht, merkt sie, dass Rainer fehlt. Sie läuft die Treppe hinauf. Was ist los? Was fällt dir ein? Komm sofort, komm her, komm runter’, schreit die Mutter hinter ihr. Sie hört auch Tante Erna schreien aber sie läuft in Windeseile weiter, hoch ins Schlafzimmer, du ungezogenes Gör, komm, gleich passiert was. Sie gehorcht nicht, sie muss Rainer retten, sie wird ihn nicht zurücklassen, niemals mehr. Sie hastet zum Bett, zieht die Puppe unter dem Plumeau hervor, das die Mutter von Schreiberhau nachgeholt hat, und unter dem Rainer so schön warm schläft. Kind, ungezogener Balg, du, wo bleibst du, beeil dich! Sie nimmt die Puppe fest in den Arm, drückt ihm einen Kuss auf die Nase und rennt durch den Flur die Treppe runter zur Haustür, und jetzt laufen alle los, die Lange Straße entlang, rennen mitten auf dem Fahrdamm. Niemand ist mehr zu sehen. Als letzte, schimpfend, keuchend und außer Atem kommen sie an. Ihr seid spät dran, sagt der Luftschutzwart. Nur wegen der da, ruft Tante Erna, die kann nicht hören, die immer mit ihrer Puppe.

Im Bunker geht das Schelten und Zanken weiter, Tante Erna schimpft über alles und auf alle, vor allem auf sie, die Große, die doch vernünftig sein müsste, weil sie schon groß ist. Und die Mutter nickt dazu und sagt, du bist gar nicht lieb. Die Tante schilt weiter, nicht mehr so laut wie auf der Straße, aber ihre Stimme ist hart wie ein Stock, wie die Knüppel von den bösen Jungen auf der Straße. Sie sagt, was alles hätte passieren können, wegen ihr. Der Luftschutzkeller hätte schon zu sein können und sie hätten auf der Straße gestanden, und was dann? Was dann? Und das mit sechs Kindern! Wenn die Kinder nicht artig sind, fallen die Bomben, was in Rathenow schon passiert ist, gar nicht auszudenken, gar nicht vorstellbar. Nein, sie hat keine Vorstellung, ahnt nur, dass was Schlimmes, das Allerschlimmste, nah ist. Alle sitzen eng beieinander auf der Bank an der Wand. Nach einiger Zeit grummelt Tante Erna nur mehr vor sich hin und Tante Frieda döst und Mutter starrt geradeaus und hält Stänzel auf dem Schoß, die greint, und Hanna kitzelt die Traudel und sie hält sich an Rainer fest. Die Frauen dämmern die Stunden dahin, das Licht ist dumpf und sie fragt Rainer, ob er auch mal glitschen möchte, später, wenn sie wieder zu Hause sind. Plötzlich ein komisches Geräusch, es grollt und dröhnt und wird furchtbar laut in ihren Ohren. Dann ein Krach, ein so lauter Krach, dass ihr Kopf fast auseinander springt. Ein Krach, der den Rainer in ihren Leib drückt. Sie hält ihm die Ohren zu, damit er diesen Lärm nicht hören muss. Danach hört sie gar nichts mehr, sie hält den Atem an und guckt vorsichtig zu den Tanten und den Schwestern. Stille. Da bebt der Boden, ihre Bank wackelt, sie schwanken zur Seite. Ein Einschlag, ganz nah, sagt Tante Frieda und ihre Stimme hört sich anders an als sonst, gar nicht mehr warm.  Sie denkt an das Haus der Tante, an die Küche und den Laden, an das Wohnzimmer mit dem großen Sofa und der Standuhr und an das Schlafzimmer mit dem warmen Plumeau, unter dem sie Rainer hervorgezogen hat, das Plumeau von Zuhause, aus Schreiberhau, was aber kein Zuhause mehr ist, wie Mutter gesagt hat.

Lange Zeit bleibt es still im Bunker, dann flüstert jemand leise, und noch jemand fragt‚ wo ist das gewesen? Nicht weit vielleicht ob wenn bloß wenn… Dann sagt niemand mehr was und der Raum ist wie leer, obwohl so viele Menschen drin sind. Endlich, viel später, hören sie die Entwarnung. Der Luftschutzwart öffnet mühsam die Eisentür, das Licht ist staubig, kommt gedämpft die Treppe herunter in den Bunker herein und sie steigen hinauf in die Lange Straße. Die ist ganz verändert. Man kann nicht weit sehen, Dunst hüllt alles ein, Häuser, Bäume und Zäune; eine Staubwolke hängt zwischen den Telegrafenmasten und vor dem Kirchturm. Sie gehen über den Schnee auf dem Pflaster, Schutt liegt darauf. Einmal steigen sie über Steine, einmal stolpert sie über Geröll und vor dem Bäcker hopst sie über einen Riss im Pflaster. Sie wollen schneller vorankommen, werden von  Trümmern aufgehalten, gehen durch Nebel um einen Betonbrocken herum, der Schnee ist gar nicht mehr weiß, der ist dunkel von Staub und Dreck. Die Häuser in der Langen Straße stehen noch, Gottseidank. Mutter und die Tanten blicken voraus, an dem Kirchturm vorbei, dahin wo Tante Friedas Haus stehen muss. Kannst du was sehen? Nein, du? Nein. Los, schneller Kinder, nun lauft schon. Und alle laufen so schnell sie können, Mutter trägt Stänzel und Tante Erna nimmt Anna auf den Arm, und sie passt auf ihren Rucksack und auf Rainer auf. Und da, auf der rechten Seite, da ist ein freier Platz, wo die Schlachterei war, da ist kein Haus mehr, da ist ein schuttgraues leeres Feld. Das Haus weggepustet, ausgelöscht, nichts steht mehr, da sind nur Scherben und ein Loch zum Keller, sonst nichts, gar nichts. Niemand sagt etwas. Tante Friedas Schlachterei ist weg. Und Dorchen und Hannas Betten sind weg. Tante Erna und Traudel haben keine Koffer mehr. Und Mutter und sie alle haben ihr Zeug verloren. Und alle Sachen sind kaputt gegangen, weil sie nicht gehorcht hat, weil sie nicht getan hat, was die Mutter gesagt hat, weil sie nicht lieb war, weil alle warten mussten, weil sie ihren Rainer geholt hat.

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