Wie ich diese langen Strümpfe gehasst habe!

Über Wollstrümpfe und den ersten Schultag

Vor mir liegt das Foto. Format 6x9, schwarz-weiß, mit weißem, gezacktem Rand: ein sechsjähriger Junge im Museumspark in Braunschweig, schon ziemlich aufgeschossen für sein Alter, eine glänzende Schultüte im rechten Arm, das Butterbrot-Täschchen vor der Hüfte hängend. Sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt, das aschblonde Haar sauber gescheitelt. Schüchtern und ein wenig verschämt grinst er in die Kamera. Er trägt einen quergestreiften Pullover, eine gestrickte, kurze Hose mit Trägern. Und lange Wollstrümpfe. Das linke Knie hat er vorgeschoben, seine Gestalt wirkt merkwürdig eingeknickt.

Mein erster Schultag.

Neben mir meine Mutter, noch recht schlank damals, mit kräftigen Beinen fest auf dem Boden der Realität stehend. Sie hält meine linke Hand. Der Schirm einer Kappe, die aussieht wie die Karikatur eines Bowlerhutes, überschattet ihre Augen. Ihr Gesicht wirkt ernst, vielleicht ein wenig angespannt.

Jedes Mal, wenn ich dieses Bild anschaue, kommt es zurück das Gefühl siedendheißer Scham, und ich erinnere mich, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie sehr ich die gestrickten Hosen und vor allem diese langen Wollstrümpfe gehasst habe.

Ein Junge von sechs Jahren braucht doch keine langen Wollstrümpfe mehr zu tragen, hatte ich mir gesagt. Das ist unmännlich! Dass mein Vater zulässt, dass ich sowas anziehen muss! Dabei gab es doch die tollen Blue-Jeans! Die kannte ich aus der Wochenschau in der »Brücke«, dem Kino der englischen Besatzer, wo man keinen Eintritt bezahlen musste. Und in der Leonhardstraße wohnte ein Mädchen, zwei oder drei Jahre älter als ich, das ein Paar dieser herrlichen Blue-Jeans besaß. Damals waren die Hosenbeine noch mit bunt kariertem Stoff ausgefüttert und wurden unten umgeschlagen. Wie oft bin ich dort stehen geblieben, habe ihr zugeschaut und die Jeans bewundert. Und ihren langen, blonden Pferdeschwanz, der mir vom Rücken ihrer blauweiß karierten Bluse zuzuwinken schien, natürlich auch.

Wenn man solche Jeans gehabt hätte! Und ein Paar der schicken hohen Leinenturnschuhe, in Blau, Schwarz oder gar in Rot. Dazu, als Krönung, ein knallbuntes Buschhemd - natürlich über der Jeans getragen. Dann hätte man doch etwas hergemacht, dann hätte man sich doch nicht insgeheim zu schämen brauchen! Und hätte ganz anders ins Auge der Kamera geschaut: selbstbewusst und keck!

Nachdem der Fotograf das Bild geschossen hatte, gingen meine Mutter und ich über die Straße und durch das große Tor auf den Schulhof. Dort waren schon ein paar Dutzend Jungen und Mädchen versammelt, in Begleitung ihrer Mütter und einiger Väter. In der Aula des Backsteingebäudes gab es eine kleine Feier. Der Direktor richtete ein paar Worte an die Eltern, sprach dann zu uns Kindern vom »Ernst des Lebens«, der jetzt beginne, stellte kurz die Lehrer vor, und dann wurden wir von unserer Lehrerin in den Klassenraum geführt. Die erste Schulstunde begann.

Die Lehrerin erzählte eine Geschichte:

»Ein Junge hat, genau wie ihr, seinen ersten Schultag. Als er nach Hause kommt, darf er seine Schultüte auspacken. Er öffnet das blaue Schleifchen, mit dem das Krepp-Papier oben an der Tüte zugebunden ist. Dann stellt er die Schultüte auf den Kopf und schüttelt die ganzen Schätze heraus: eine Pappschachtel mit Buntstiften, ein großes rotes Radiergummi, ein kleiner grüner Anspitzer, eine Tafel Schokolade, eine Tüte mit sauren Drops, ein Paket Kaugummi, fünf Lakritzschnecken, eine Stange Karamellbonbons, drei Päckchen MAOAM - Erdbeere, Himbeere und Zitrone - und ein Beutel mit Schokolinsen. Nur eine rotweiße Zuckerstange hat sich in der Schultüte verklemmt. Passt auf,« sagte die Lehrerin, »ich male euch das mal an die Tafel.« Sie drehte sich herum, die Kreide in ihrer Hand zauberte aufquietschend zwei lange, weiße Linien, die oben in einer Spitze zusammenliefen, auf die grüne Schieferfläche.

»Das ist die Schultüte. Und jetzt noch die Zuckerstange dazu!« Sie zeichnete einen Querbalken mitten hinein.

»Seht ihr,« sagte sie, »und schon habt ihr den ersten Buchstaben gelernt! Weiß denn jemand, wie dieser Buchstabe heißt?« Ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen in der ersten Bank links meldete sich aufgeregt.

»Ja, du, sag’ es uns, wie der Buchstabe heißt!«

»A,« sagte die Kleine.

»Richtig, das ist ein A. Und jetzt wiederholen wir es alle zusammen!«

»Aaaaaah,« tönte durch die Bankreihen ein Chor von hellen Kinderstimmen. »Dann habt ihr genug gelernt für heute!« sagte die Lehrerin. »Ihr dürft jetzt aufstehen und in Zweierreihen aus dem Klassenzimmer gehen.«

So habe ich lesen und schreiben gelernt. Nach der alphabetischen Methode. Später kam die so genannte Ganzheitsmethode auf, und die Erstklässler lernten gleich ganze Worte: VATER, MUTTER, AUTO, TAFEL usw.

In den folgenden vier Jahren war ich insgesamt in sechs Mädchen aus meiner Klasse verliebt - einmal sogar in zwei gleichzeitig. Still, heimlich und von ferne. Zwar hatte ich mit der Unterstützung meines Vaters durchgesetzt, dass ich die von meiner Mutter gestrickten Hosen und die langen Strümpfe nicht mehr anziehen musste - statt dessen trug ich Lederhosen, wie die anderen Jungs - aber schüchtern war ich noch immer. Völlig unvorstellbar, dass ich mich getraut hätte, einer meiner Angebeteten zu sagen, wie sehr ich sie verehrte.

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