68er Aroma

Assoziative Erinnerung an 1968

Einige Beimengungen aus der Zubereitungsmasse: 11. April 1968 Attentat auf Rudi Dutschke - 29. Mai 1968 Billigung der Notstandsgesetze im Bundestag - Krieg in Vietnam - 20/21. August 1968 Überfall der Warschauer-Pakt-Truppen auf die Tschechoslowakei - Herbst 1968 schwere Hungersnot in Biafra - 21.-27. Dezember 1968 zehn Mondumkreisungen der USA-Raumfähre

Wenigstens in der Quizsendung von Hans-Joachim Kulenkampff gab es jedesmal einen, der gewinnen würde. Und sonst? Im Wohnzimmer. Im Fernsehen. In den Zeitungen. Panzer rollten. Maschinengewehre wurden geputzt. Gummiknüppel wüteten. Benzin wurde in Flaschen gefüllt. Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. In der Sprache gab es keine Übereinkünfte mehr, vertraute Worte verloren den familiären Zusammenhang und wurden zu Belastungsfaktoren für das Wohlbefinden. Ränder von Formen weichten auf. Neugierige Arglosigkeit schaltete Frühwarnsysteme ab.

In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden schrieben wir Songtexte von Chris Andrews, den Lords, den Beatles ab. Aber viele Gleichaltrige und Ältere standen noch fügsam in der Reihe und meldeten sich in der Tanzschule an, wo sie sozialverträgliche Verhaltensformen lernten.

Im Jahr 1968 zeichnete ich zuerst einen Urwald und etwas später einen Rudi Dutschke.

Urwaldzeichnung 3.3.1968

Rudi Dutschke 13.4.1968

In einem Garten unter einem Baum, ich schaute Bilder an, las Geschichten, und wuchs heran. Hortus Conclusus, früh erlebter Ort von spät erkannter Herrlichkeit mit zahlreichen Verstecken, geschützt mit einer Mauer aus Ziegelsteinen. Sonnenspiele im Frühling und Sommer, Obststräucher und Bäume, Rasenflächen, Kletteräste. Der schöne Garten, in dem Leben sichtbar war. Die Unendlichkeit, das Sonnenlicht, der Urwald und ein Netzwerk mannigfaltiger Sehnsüchte.

Horch was kommt von draußen rein! Mit großen Buchstaben blinkten Stichwörter in den Garten: Manipulation, dritte Welt, antiautoritär, reaktionär, Underground, psychodelisch, Hippies, Kommune, Establishment, Demonstrationen.

Lieber Gott, ich danke Dir, was Du gibst zu essen mir, mach auch alle Armen satt, hilf dass keiner Hunger hat. Die grobgehackten Zwiebeln mit den gekochten Eiern, dem Meerrettich und dem Apfel in den laufenden Mixer geben. Welchen Kuchen aber wollte Rudi Dutschke in der blitzeblank geputzten Küche backen? Was sagte der Wetterbericht? Überwiegend stark bewölkt, stellenweise Schneefall, Tageshöchstwerte zwischen minus ein bis zwei Grad plus in vielen Elterngesichtern: Wo geht der Sohn hin? Nicht mehr zum Frisör. Nicht mehr in die heilige Messe. Aufgedunsene Schlagzeilen schimpften über langbehaarte Affen. Knüppel aus dem Sack. Strafe statt Austausch. Kein langes Federlesen. Kurze fuffzehn machen. Drei Pistolenschüsse in einen Kopf. Im April. Am Tag, als der Regen kam. Da kamen keine Zeitungen mehr. Da erblühten die Bäume, da erwachten vorwurfsvoll abspenstige, unüberzeugbar glaubensselige Träume. Backe backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen. Wie klettert man über eine Ziegelsteinmauer? Werden die Bilder vom Bildschirm in einer tatsächlichen Straße zu lebendigen und atmenden Körpern?

Auf dem Marktplatz sammelten sich die Leute, darunter auch fast vollständige Schulklassen. Megaphone, Spruchbänder, Transparente, dröhnende Rufe, Appelle, Signale gegen die hochgeschossigen Kaufhäuser an beiden Seiten der Einkaufsstraße, die der Zug entlangging. Das Echo. Bürger lasst das Gaffen sein. Solidarisieren-mit-mar-schie-ren. Fröstelnde Aufregung lief brühheiß über Schultern und Rücken.

Einige Tage danach breiteten vier Schulkameraden eine alte Decke, die zu Hause nicht mehr gebraucht wurde, auf dem Pflaster in der Fußgängerzone aus, setzten sich friedsam und mild darauf, tranken unbedarft und schüchtern Tee aus einer Thermoskanne, hörten brav etwas Musik aus einem Kassettenrecorder. Einer von ihnen hatte sich einen alten Seidenschal als Kopfband um die gerade bis über die Ohren stehenden Haare gebunden. Sie ließen sich von Passanten beschimpfen und anpöbeln: »Werdet nicht frech. Und die Studenten sollte man alle an die Wand stellen!« Später gab es Diskussionen mit den Passanten. Zaghaft noch und schüchtern wurde zurückgeschrieen: »Aber auch wir haben doch ein Recht auf eine eigene Meinung.«

Etwas später schon erschienen die Schriftgelehrten. Sie machten sich zu Heiligen und stellten sich auf Säulen, von denen sie ihre Angelhaken auswarfen. In Geheimsprachen geschulte Fehldiagnostiker erzeugten Scheinschwangerschaften in der Farm der Tiere. Die Stimmen der neuen zitatenkundigen Prediger dampften: Alleine unter Bäumen sitzen führt zur Magersucht! Nur in der Gruppe kann man Früchte pflücken!

Die anderen schwitzten und dozierten: Wer sich nicht an die altbewährten Gebrauchsanweisungen hält, ist ein spätpubertärer Geistesgestörter und muss behandelt werden, oder er wird jämmerlich im Morast der Dunkelziffern ersaufen!

Es gab Kataloge mit fertigen Modellen für Aufbau und Gestaltung von Wegen, die stets in die Leimrutenlandschaften der jeweiligen Anbieter führten.

Hier wie dort: Kategorisieren-mitmarschieren. Ersetzen von Diskussion durch Deklamation mit darauffolgender Akklamation. Von allen Seiten werden Arme ausgestreckt. Daran lässt man Zweifler verhungern. Ausgrenzen und Säuberung statt Dialog. Sauerstoffmangel beim hoffnungsvollen Versuch von Kraftübertragung. Wenn die Masse der Zutaten im Mixer gut püriert ist, wird sie in eine gespülte Kastenform gestülpt, gut abgekühlt, dann gestürzt und in Scheiben geschnitten. Man garniert mit Speckscheiben oder Kaviar.

In der hoffnungsvollen Unendlichkeit vielfarbiger Wünsche begann die Zeitreise. Durch das Licht einer dunklen Welt führte sie entlang vorgezeichneter Fluchtlinien zur späteren Üblichkeit ablehnender Tische, hinter denen sich eine biegsame Auswahl aus einst verloren geglaubten Jahrgängen verschanzt, geleitet von gnädigen Dienstherren.

Ehemalige Begleiter wurden zu Konkurrenten, die, in schonungsloser Nettigkeit erfolgsorientierte Ellbogenstöße austeilend, den wahren Genuss des flott abgerundeten Designs suchen. Schrill signalisiertes Markenbewusstsein verleiht als geselliges Gleitmittel salonfähiges Ansehen. Schmackhaft antiautoritäre Köpfe verneigen sich engagiert spannfähig und leidenschaftlich deckungsgleich, passen sich radikal folgsam an Vorstandsstrukturen an. In der schönen neuen Welt anregender Vergoldung wägen Anarchisten und alte Gemeinschaftler beim gefügigen Hochstreben achtsam die freien Gedanken der autonom gewinnbringenden Gesellschaften. Summa cum laude?

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