Freundinnen

Lebensläufe in Ost und West.

Dreimal waren sie Hand in Hand um das Brandenburger Tor gelaufen, sie konnten es nicht fassen, sie mussten es beschwören wie im Märchen. Die magische Zahl drei. Wenn danach immer noch alles so war, wie es gewesen war, dann war es Wirklichkeit. Wahrhaftig wahr. Die Wiedervereinigung, es gibt sie. Mit der S-Bahn die Strecke über Friedrichstraße fahren, einfach so weiter: keine Schikane, keine Grenze. Jederzeit! Unfassbar!

Seit 1953, als sie mit ihrer Familie rüber gemacht hatten, war Petra alleine diesen Weg, diese Einbahnstraße von West nach Ost gegangen, hat sich den zahlreichen Schikanen ausgesetzt und ist doch immer und immer wieder gekommen, um die alte Schulfreundin Barbara und deren Familie und Schwester zu besuchen.

Nur umsteigen, das konnte sie auch im Jahre acht der Einheit am Bahnhof Friedrichstraße noch nicht. Das saß zu tief, diese Erlebnisse im Glaspalast in den unterirdischen U-Bahnschächten. Alpträume verursachende Erlebnisse der Angst, der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins. Das würde noch einige Jahre dauern, ehe sie diesen Bahnhof wie jeden anderen Bahnhof auf der Welt würde betreten können.

Die beiden Frauen, Barbara dort im Ostteil der Stadt und Petra hier im Westen, welche parallelen und doch sternenweiten Entfernungen in ihren persönlichen Werdegängen, in ihren privaten und beruflichen Lebenswegen! Die in den Westen Verbrachte, hatte sich in den ersten Jahren fremd gefühlt, hatte die Normen und Regeln, die Verhaltensweisen der anderen Kinder nicht verstanden, war anders, hatte andere Werte und Maßstäbe im Kopf. Schließlich hatte sie als Junger Pionier versprochen »… so zu leben und zu lernen, dass ich würdig bin, Mitglied der Pionierorganisation zu sein, die den Namen Ernst Thälmann trägt« und das bedeutete wie in ihrem Pionierausweis stand, dass jeder Pionier verpflichtet war, stets zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie Ernst Thälmann es tat. Sie glaubte weiter daran, dass Junge Pioniere den Menschen achten, dass sie ein Teil des werktätigen Volkes sind. »Pioniere lieben ihre Heimat, sie helfen mit im Kampf um den Frieden, um ein einheitliches, demokratisches und friedliebendes und unabhängiges Deutschland und um den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik!« Die weiteren Pioniergrundsätze waren:

  • sind Freunde der Sowjetunion
  • halten Freundschaft mit anderen Völkern
  • achten ihre Eltern
  • lieben die Wahrheit
  • lernen gut
  • helfen überall mit
  • sind zuverlässig
  • halten ihren Körper sauber und gesund
  • sind anderen Freund
  • halten ihr blaues Halstuch in Ehren

All diese Ideale und Grundsätze waren ihr im Weg, als sie versuchte sich dort im Westen in den ersten Jahren heimisch zu fühlen. Denn hier hatte das Wirtschaftswunder bereits begonnen zu greifen. Die Kinder verabredeten sich in Cliquen, zu denen sie nicht gehörte. Geld und Besitz, den ihre Familie als Republikflüchtlinge nicht hatten, bestimmten Status und die Anerkennung in der Klasse und in der Freizeit.

Die Flucht wäre ihretwegen beinahe schief gegangen, denn ihre Eltern hatten ihr nicht gesagt, dass flüchteten, dass sie nie wieder zurück könnten. Einen Ausflug, einen Besuch hatten sie angeblich zu einer Tante im Westteil der Stadt machen wollen und sie hatte erst dort erfahren, dass es nie wieder zurückgehen sollte. Damals konnte man noch mit der U-Bahn einfach so vom Osten in den Westen und umgekehrt fahren, wenn man auch ständig mit Kontrollen und Repressalien rechnen musste und da Petra elf Jahre alt war, ist sie kurz entschlossen in die U-Bahn gestiegen und noch mal zur Warschauer Straße in die alte Wohnung und in die Stalinallee gefahren, um sich von ihren Freundinnen zu verabschieden. Als sie dann wieder zurück in den Westen zu den Eltern kam, gab es Ohrfeigen und Schimpfe. Wenn sie damals von jemandem aufgehalten, festgehalten worden wäre, dann hätte sie die ganze Familie ins Unglück stürzen können, dann wären sie alle nach Bautzen gekommen.

Barbara konnte damals, als sie sich von Petra verabschiedete, das Ausmaß der Flucht, und was das für die Freundinnen und ihre Freundschaft bedeuten würde, nicht erkennen.

Erst als viele Jahre vergangen waren, beide eine Lehre bzw. eine Ausbildung begonnen hatten, Petra lernte Dekorateurin und Schaufenstergestalterin, Barbara wurde Krankenschwester, sahen sie sich zum ersten Mal wieder. Da fuhr Petra durch die Zone mit dem Zug nach Westberlin, wo sie bei der Tante im Wedding übernachtete, die sie damals bei ihrer Flucht schon beherbergt hatte und ging dann - inzwischen war schon die Mauer gebaut worden - zum ersten Mal beim Übergang Friedrichstraße in den Osten der Stadt. Übergang - was für ein Wort, bei all den Kontrollen und Sperren, mit »über etwas gehen« hatte das nur sehr wenig zu tun. Bereits beim Transit durch die DDR wurde sie im Zug schikaniert, holte man sie raus aus dem Zug, denn sie führte ja den Namen ihres Vaters, der, da selten und aus dem Sudetenland, ziemlich auffallend war und somit auf der Fahndungsliste für Republikflüchtige stand. Sie musste alle Gepäckstücke in einen Schuppen auf dem Bahnhof schleppen und alles wurde genauestens untersucht. Man stellte ihr Fragen nach ihrem Vater, was der jetzt mache, wo er arbeite usw. und nach ca. 30 Minuten konnte sie wieder einsteigen.

An dem Fußgängerüberweg Friedrichstraße passierte noch mal genau dasselbe, nur mit der Verschärfung, dass ihre Nummer, die Nummer 914, die sie, nachdem man ihr den Pass abgenommen hatte, verpasst bekam, erst nach zwei Stunden aufgerufen wurde, und das erst, als bereits alle anderen bis zur Nummer 3845 durch waren und man ihr beim Filzen selbst das Burda-Schnittmusterheft, welches sie der Familie ihrer Freundin mitbringen wollte, abgenommen hatte.

Gestresst und verängstigt kam sie dann 2 Stunden nach der mit der Freundin verabredeten Zeit am anderen Ende des Tunnels wieder ans Tageslicht, in Ostberlin unter dem immer noch gleichen Himmel, und brauchte einige Stunden um sich von den Schrecken zu erholen.

In den folgenden Jahren hat Petra sich dann trotz ihrer Angst immer wieder durch diese Sperre, Grenze, Mauer begeben, um sich mit der Freundin und deren Familie zu treffen. Einmal gab es eine besonders dramatische Situation. Petra war wie so oft schon beim Übergang Friedrichstraße eingereist, wie es so schön hieß, hatte ihren Pass auf einen Doppelständer gelegt und ihre Nummer bekommen und gewartet. Dann hatte sie ihren Pass, ohne ihn anzuschauen, eingesteckt und war zu der Freundin auf der anderen Seite gelaufen. Sie verlebten einen herrlichen Tag und erst am Abend kurz vor der letzten U-Bahn brachte man sie wieder zum Glaspalast an der Friedrichstraße zur Rückkehr in den Westen. Sie reichte dem Beamten ihren Pass. Der schaute sie an, den Pass an und fragte, ob sie das sei auf dem Passbild. »Was glauben sie denn, wer das sein soll«, antwortete sie etwas pampig. »Ich frage sie noch mal, sind sie das?« Petra sagte: »Ja, natürlich.« »Dann sehen sie sich das Bild und den Pass doch mal an«, meinte der Grenzbeamte. Als Petra den ihr zugereichten Pass anschaute, sah sie das Gesicht eines Mannes und den Namen Albert Schuster. Blitzschnell geriet ihr Herz ins Stolpern, brach ihr der kalte Angstschweiß aus und die Knie wurden ihr weich. Horrorszenarien von ostdeutschen Gefängnissen zuckten durch ihr Hirn und sie stotterte nur: »Nein, natürlich bin ich das nicht.« Mit ängstlichen Augen reichte sie den Pass zurück und sagte zu dem Beamten, dass dies nicht ihr Pass sei. Nun wurden ihr Fragen gestellt, wie sie heiße, wann und wo sie geboren sei, wo sie wohne etc., und als sie diese Fragen in einer ihr schier unendlich dauernden Angstzeit beantwortet hatte, lächelte der Frager, was sie in so einer Situation an der dortigen Grenze noch nie erlebt hatte und sagte zu ihr: »Na, dann kommen sie mal mit nach hinten, da sitzt seit 3 Stunden der Herr Schuster und wartet auf Sie, denn er hat ja ihren Pass.« Ein Felsbrocken der Erleichterung viel ihr vom Herzen und nachdem noch einige Fragen beantwortet, zwei Formulare unterschrieben waren, fuhr sie mit Herrn Schuster in den Westteil der Stadt, wo sie beide, einen Tee trinken gingen, um den überstandenen Schrecken sacken zu lassen. Petra dachte nur immer wieder, was sie wohl gemacht hätte, wenn sie im Verlauf des Tages im Osten irgendwann in ihren Pass geschaut und festgestellt hätte, dass er ihr gar nicht gehörte. Sie wäre den ganzen Tag vor Angst gestorben, hätte sich die fürchterlichsten Variationen ausgemalt und sich gar nicht an den Kontrollpunkt herangewagt. So war dieses Erlebnis ja wirklich noch mal glimpflich abgegangen, aber als sie das alles bei ihrem nächsten Besuch der Freundin erzählte, wurde die im Nachhinein noch ganz blass vor Schreck.

Später dann war Petra erst Erzieherin und dann Diplom-Sozialpädagogin geworden und hatte geheiratet. Ihr Mann fuhr auch mit nach Ost-Berlin und dort traf man sich mit Barbara und ihrem Mann. Auch die jüngere Schwester von Barbara, Ingrid, hatte zwischenzeitlich geheiratet und obwohl sie die Jüngere der beiden Schwestern war, bereits ein Kind bekommen. Ingrids Mann war scharfer Parteigänger der SED und der Kontakt mit Westlern für sie und ihre kleine Tochter Monika deswegen eigentlich verboten. Die Freundinnen warteten deswegen immer bis der Gatte mit den Bonzen am Wochenende jagen ging, um sich zu dritt zu treffen. Petra hatte besonders das kleine Mädchen ins Herz geschlossen, das immer gar nicht verstehen konnte, warum ihre geliebte Tante nicht über Nacht bleiben konnte und nur so selten kam.

Die Verhältnisse spitzten sich zu, der kalte Krieg wurde kälter und der eiserne Vorhang immer unüberwindlicher. Jedenfalls verbot Ingrids Mann ihr wegen seiner Karriere den Umgang mit der West-Petra und so konnten sie und die kleine Monika sich viele Jahre gar nicht mehr sehen.

Nur in einem Jahr, da war aller Freude groß, denn sie hatten endlich einen Weg gefunden, um sich länger und ausgiebiger zu sehen. West und Ost traf sich am Schwarzen Meer zu einem gemeinsamen Sommerurlaub, wenn auch in getrennten Hotels. Sie zahlten mit zwei verschiedenen Währungen, deren Beliebtheit bei den Einheimischen sehr unterschiedlich war. Vierzehn Tage und Nächte hatten sie Zeit, um über alles zu reden, miteinander wieder richtig vertraut zu werden, zu feiern, zu baden, zu essen und die Freundschaft zu festigen.

In der Folgezeit wurde Barbara Unterrichtsschwester und bekam einen Sohn, Wolfgang. Petra wurde geschieden und qualifizierte sich beruflich ebenfalls weiter. Sie wurde Lehrerin an einer Fachschule. Barbara wurde auch geschieden und qualifizierte sich weiter. Sie wurde Kieferorthopädin und machte ihren Doktor. Petra heiratete wieder und bekam nun auch einen Sohn. Das Leben ging auf beiden Seiten seinen zähen, verschlungenen, individuellen, Monate und Jahre verschlingenden Gang. Petra kam mit den Schülerinnen ihrer Schule in den Ostteil der Stadt, da Klassenreisen nach Berlin subventioniert wurden und so eine Klassenreise viel billiger wurde. Petra war eine gute Fremdenführerin in Ostberlin, da sie mit den Örtlichkeiten vertraut war. Und mit der Verantwortung für ihre 18 Schülerinnen schwand beim Grenzübertritt auch ihre persönliche Angst, denn sie musste die Schülerinnen beruhigen, die aus ländlichem Bereich in Niedersachsen kamen und noch niemals im Osten waren. Petra arrangierte immer ein Treffen im »Haus des Lehrers« am Alex, wo sie dann mit ihren Fachschülerinnen einen Vortrag über das fabelhafte DDR Ausbildungswesen gehalten bekam und durch den Staatsrat der DDR zu einem Essen eingeladen wurde. Dieses Essen im Restaurant vom »Haus des Lehrers« war immer wieder eine besondere Erfahrung, denn in der durch klassische Musik gedämpften, festlich feierlichen Atmosphäre, dem roten Plüsch und zwischen den scheinbar vorbildlichen Kellner fielen die jungen Damen aus dem Westen Jahr um Jahr mehr auf, da die ungezwungene, offene und etwas laute Verhaltensweise der westdeutschen Schülerinnen ganz ungewöhnlich war. DDR-Schülerinnen hätten sich in der Öffentlichkeit niemals so gezeigt. Ernst wurden sie zu mehr Ruhe und Vornehmheit ermahnt.

Petra hatte dann ein Erlebnis der besonderen Art, als sie mit ihrer Freundin Barbara drei Monate nach dem Fall der Mauer in das nun der Öffentlichkeit frei zugängliche Lokal im »Haus des Lehrers« ging und die gleiche Kellnerin, die sie drei Monate zuvor auf die freundliche Bitte nach etwas mehr Gemüse, barsch abgefertigt hatte, nun um die Freundinnen herumscharwenzelte und immer wieder fragte, ob sie denn noch was wünschten und ob sie zufrieden seien.

Da Barbara immer eher unangepasst im DDR-System gelebt hatte und immer aufpassen musste, dass man sie nicht der Stasi vorführte, war es für sie nach der Wende ganz klar, dass sie sich den alten Traum, sich als Kieferorthopädin selbstständig zu machen, erfüllen wollte. Wie oft hatten die Freundinnen heiß darüber diskutiert, wie sie in den Westen kommen könnte, um dort eine eigene Praxis aufzumachen. Von Republikflucht, vom Heiraten eines Ausländers, der sie mit rüber nimmt, und anderen Plänen schwirrte Petra nach jedem Besuch der Kopf und sie hatte manches mal Angst um die temperamentvolle Freundin.

Nun also ging Barbara mit ihren nunmehr 49 Jahren, ohne jede Erfahrung in westlich-kapitalistischer Geschäftsführung, mutig und stark an die Realisierung und im Jahre acht nach der Wende saß sie fest im Sattel und verdiente sich eine goldene Nase, lebte endlich ihren Traum.

Inzwischen ist Petra, früher die Reiche aus dem Westen, die Päckchen und Pakete schickte, die Klamotten, Kaffee und Bananen bei ihren Besuchen mitbrachte, zu der kleinen Angestellten geschrumpft, die nun ihrerseits von der Frau Doktor abgelegte Edel-Klamotten erbte und bei Geburtstagen und anderen Festen in der Eigentumswohnung der Freundin in Köpenick, mit Seegrundstück und eigenem Bootsanleger, oftmals still in der Runde saß und fürchtete, sich verirrt zu haben, wenn die Gäste ihrer Freundin sich stundenlang über günstige Immobilien-Schnäppchen, Steuersparmöglichkeiten und andere Kapitalanlagen unterhielten, denn ihre Welt war immer noch die der sozial Benachteiligten, die der Kinder und das nach der Wende um so mehr. Über Politik, so bemerkten die beiden Freundinnen nun mehr als einmal, könnten sie nun auch nicht mehr wie zu den Mauerzeiten reden, denn die inzwischen im Konsum fest verankerte Barbara dachte konservativ, werterhaltend und unternehmerisch, während Petra immer noch und unverbesserlich ein alter Sozi war.

Der Ehemann der Schwester, der SED-Parteigänger bejammerte seine Abwicklung und die Ungerechtigkeiten der Nachwendezeit, hatte erst einmal eine Durststrecke zu überstehen, war nun aber wieder als Professor tätig.

Ingrid arbeitete in der kieferorthopädischen Praxis ihrer großen Schwester und sogar der Sohn arbeitete im Zahnlabor, sodass man sagen kann, dass sich alles wunderbar gewandelt hat.

Für Petra hat sich in der Nachwendezeit mit 49 Jahren noch einmal eine interessante Stelle in einer norddeutschen Großstadt ergeben, sie hat sie angenommen und nun können die beiden Freundinnen in der Märkischen Heide in Barbaras Datscha zusammen Ferien machen, sich zu ihren Geburtstagen und, wann immer sie wollen, besuchen und miteinander sprechen.

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